Ilium
leihen? Was soll ich für sie tun? Bei dem Gedanken bekomme ich weiche Knie.
»Setz den Helm auf«, befiehlt die Muse.
Unbeholfen ziehe ich das dicke Leder über. Apparaturen sind darin eingebettet, Chipschaltkreise, Nanotech-Maschinen. Der Helm verfügt über durchsichtige, biegsame Augenpartien und ein Gittergewebe vor dem Mund, und als ich die Kapuze ganz aufgesetzt habe, scheint sich die Luft um uns herum auf seltsame Weise zu kräuseln, obwohl meine Sicht ansonsten unbeeinträchtigt ist.
»Unglaublich«, sagt die Muse. Sie schaut knapp an mir vorbei. Mir wird bewusst, dass ich nun etwas besitze, das jeder Junge sich wünscht – echte Unsichtbarkeit, obwohl ich keine Ahnung habe, auf welche Weise der Helm meinen ganzen Körper gegen Blicke abschirmt. Mein erster Impuls ist, die Beine in die Hand zu nehmen und mich vor der Muse und all den Göttern zu verstecken. Ich unterdrücke den Impuls. Die Sache muss einen Haken haben. Kein Gott und keine Göttin, nicht einmal meine rangniedrige Muse, würde einem simplen Scholiker solche Macht geben, ohne Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.
»Dieses Gerät schützt dich vor den Blicken aller Götter außer der Göttin, die mich ermächtigt hat, es dir zu geben«, sagt die Muse ruhig, während sie rechts an meinem Kopf vorbei ins Leere starrt. »Diese Göttin kann dich jedoch überall sehen und aufspüren, Hockenberry. Und obwohl das Medaillon Geräusche, Gerüche und sogar den Herzschlag dämpft, machst du dir keine Vorstellung davon, wie fein die Sinne der Götter sind. Bleib in den nächsten paar Minuten dicht bei mir. Tritt behutsam auf. Sag nichts. Atme so leicht und so flach wie möglich. Wenn du entdeckt wirst, kann weder ich noch deine göttliche Schutzpatronin dich vor Zeus’ Zorn bewahren.«
Wie atmet man leicht und leise, wenn man fürchterliche Angst hat? Aber ich nicke, ohne daran zu denken, dass die Muse mich momentan nicht sehen kann. Als sie wartet und immer noch leicht misstrauisch dreinschaut, als suchte sie mich mit ihrem göttlichen Sehvermögen, krächze ich: »Ja, Göttin.«
»Leg deine Hand an meinen Arm«, befiehlt sie barsch. »Bleib dicht bei mir. Löse ja nicht den Kontakt mit mir. Sonst wirst du vernichtet.«
Wie eine ängstliche Debütantin, die zu ihrem ersten Fest geleitet wird, lege ich meine Hand an ihren Arm. Die Haut der Muse ist kalt.
Ich war einmal im Vehicle Assembly Building, der Raumschiffmontagehalle im Kennedy Space Center auf Cape Canaveral. Der Führer erklärte, dass sich unter dem Dach, rund hundertfünfzig Meter über dem Betonboden, manchmal Wolken bildeten. Man hätte das VAB in eine Ecke des gigantischen Raumes stellen können, in dem wir uns jetzt befinden, und man hätte es ebenso wenig bemerkt wie ein weggeworfenes Spielzeugklötzchen in einer Kathedrale.
Bei dem Wort »Götter« denkt man an die zentralen Gottheiten, die Hauptgötter – Zeus, Hera, Apollo und ein paar andere –, aber in diesem Raum sind Hunderte von Göttern, und der größte Teil des Raumes ist leer. Kilometerhoch über uns, so scheint es, lenkt eine goldene Kuppel – die Griechen hatten das Prinzip der Kuppel noch nicht entdeckt, folglich steht dies im Widerspruch zur klassisch-konservativen Architektur der anderen riesigen Gebäude, die ich auf dem Olymp gesehen habe – die Gespräche akustisch in alle Winkel des atemberaubenden Raums.
Der Fußboden scheint aus gehämmertem Gold zu bestehen. Götter, die sich auf Marmorgeländer stützen, schauen von umlaufenden Zwischengeschossen herab. Überall in den Wänden sind Aberhunderte überwölbter Nischen eingelassen, in denen jeweils eine weiße Marmorskulptur steht – Statuen der anwesenden Götter.
Da und dort flimmern Hologramme von Achäern und Trojanern, überlebensgroße, farbige, dreidimensionale Bilder streitender, essender, kopulierender oder schlafender Männer und Frauen. Nahe beim Zentrum des Raums führen Stufen in eine Vertiefung hinunter, die größer ist als jede Kombination olympiatauglicher Schwimmbecken, und dort flimmern und schweben weitere Echtzeitbilder von Ilium – Panorama-Luftbilder, Großaufnahmen, Schwenks, Mehrfachbilder. Man hört die Dialoge, als wären die Griechen und Trojaner hier im Raum. Um diesen Bilderpool herum sitzen die Götter – die wichtigen Götter, die Hauptgötter, die jeder Gymnasiast kennt – auf steinernen Thronen, räkeln sich auf üppigen Liegen und stehen in ihren zeichentrickfilmartigen Togen herum.
Untergeordnete Götter
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