Ilium
Nachmenschen einen … Gegenspieler, den sie nicht kontrollieren konnten. Und es war noch nicht vorbei. Die Nachmenschen experimentierten auch mit sich selbst entwickelnden Programmen und Projekten anderer Art und gestatteten ihren Quantencomputern, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. So unglaublich es klingt, sie brachten stabile Wurmlöcher zustande, sie führten Zeitreisen durch, und sie transportierten Menschen – wobei ihnen Altmenschen als Versuchskaninchen dienten, weil sie niemals ihr eigenes unsterbliches Leben riskiert hätten – per Quantenteleportation durch Raumzeittore.«
»Was hat das mit den Calibani zu tun?«, fragte Harman hartnäckig. Offenbar versuchte er noch immer, die Allnet-Bilder aus seinem Bewusstsein zu vertreiben.
Savi lächelte. »Das Prospero-Noosphären-Wesen hat entweder eine sehr hoch entwickelte Ironie-Ausstattung oder gar keine. Es taufte die empfindungsfähige Biosphäre auf den Namen ›Ariel‹ – eine Art Erdgeist –, und zusammen schufen Ariel und Prospero die Calibani. Sie entwickelten eine Menschenart – weder Altmenschen noch NMs, auch keine Eloi – zu jenem Monster, das ihr vorhin am Kreuz gesehen habt.«
»Warum?«, fragte Daeman. Seine Kehle war wie zugeschnürt; er brachte die zwei Silben kaum heraus.
Savi zuckte die Achseln. »Erfüllungsgehilfen. Prospero ist ein friedliches Wesen, oder zumindest hält er sich dafür. Aber seine Calibani sind Ungeheuer. Killer.«
»Warum?« Diesmal stellte Harman die Frage.
»Um die Voynixe aufzuhalten«, sagte die alte Frau. »Um die Nachmenschen von der Erde zu vertreiben, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten. Um jede Laune in die Tat umzusetzen, die die Prospero- und Ariel-Punkte der Noosphären-Trinität in die Tat umgesetzt haben wollten.«
Daeman versuchte, das zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Schließlich sagte er: »Weshalb hing das Ding an einem Kreuz?«
»Es hing nicht am Kreuz«, sagte Savi, »sondern im Kreuz. Einer Aufladungswiege.«
Harman war so bleich, dass Daeman dachte, er wäre vielleicht krank. »Weshalb haben die NMs die Voynixe erschaffen?«
»Oh, sie haben die Voynixe nicht erschaffen«, sagte Savi. »Die Voynixe kamen woanders her, dienen jemand anderem und verfolgen ihre eigenen Ziele.«
»Ich dachte immer, sie wären Maschinen«, sagte Daeman. »Wie die anderen Servitoren.«
»Nein«, sagte Savi.
Harman schaute in die Nacht hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Blitze und der Donner waren über den Horizont abgezogen. Ein paar Sterne lugten zwischen Wolkenfetzen hervor. »Die Calibani halten die Voynixe aus dem Becken fern«, sagte er.
»Sie sind eines der Dinge, die die Voynixe fern halten«, stimmte Savi zu. Sie klang erfreut, wie eine Lehrerin, die gerade festgestellt hatte, dass einer ihrer Schüler kein kompletter Schwachkopf war.
»Aber warum haben die Calibani uns nicht umgebracht?«, fragte Harman.
»Unsere DNA«, sagte Savi.
»Unsere was?«, fragte Daeman.
»Egal, meine Lieben. Es genügt, wenn ich euch sage, dass ich mir einen Schnipsel von eurem Haar ausgeborgt habe. Zusammen mit einer Locke von mir hat uns das alle gerettet. Ich habe eine Vereinbarung mit Ariel getroffen, wisst ihr. Lass uns dies eine Mal passieren, und ich verspreche, dass ich die Seele der Erde retten werde.«
»Du bist dem Ariel-Erde-Wesen begegnet?«, fragte Harman.
»Nun ja, begegnet nicht gerade«, sagte Savi. »Aber ich habe über das Noosphären-Biosphären-Interface mit ihm geplaudert. Wir haben einen Pakt geschlossen.«
In diesem Moment wusste Daeman, dass die alte Frau wirklich verrückt war. Er fing Harmans Blick auf und sah darin dieselbe Schlussfolgerung.
»Ist nicht so wichtig«, sagte Savi. Sie schüttelte ihren Rucksack wie ein Kopfkissen auf, legte sich zurück und schloss die Augen. »Schlaft ein bisschen, meine jungen Freunde. Morgen müsst ihr ausgeruht sein. Mit ein wenig Glück fliegen wir morgen hinauf, hinauf, hinauf zum Orbit-Ableger.«
Sie schlief und schnarchte bereits, bevor Harman und Daeman einen weiteren besorgten Blick wechseln konnten.
37
Ilium und Olymp
Wie sich herausstellt, bringe ich es nicht fertig. Ich habe nicht den Mumm, den Schneid, die Skrupellosigkeit, vielleicht auch nicht die Courage.
Noch vor Anbruch der Morgendämmerung qte ich in Hektors riesiges Haus in Ilium. Ich bin erst vor zwei Tagen hier gewesen; in Gestalt des mittlerweile enthaupteten Lanzenkämpfers Dolon war ich Hektor, der seine Frau und seinen Sohn suchte, nach Hause
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