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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Kerzen sieht Helena mich sofort. Sie stützt sich in ihren Kissen auf den Ellbogen und sagt: »Hock-en-bär-iihh?«
    Ich stehe schweigend in ihrem Schlafgemach. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Wenn sie ihre Wachen ruft oder auch nur mit diesem Dolch auf mich zukommt … ich bin zu müde, um zu kämpfen, zu müde, um auch nur per QT zu fliehen. Ich komme noch nicht einmal auf die Idee, mich zu fragen, weshalb ihr Schlafgemach um halb fünf Uhr morgens von Kerzen erleuchtet ist.
    Sie erhebt sich und kommt zu mir, aber ohne den Dolch. Ich hatte vergessen, wie schön Helena von Troja ist – im Vergleich mit ihrem grazilen, weichen Körper in dem durchsichtigen Gewand wirkt Skamandrios’ vollbusige Amme einfach nur massig und untersetzt. »Hock-en-bär-iihh?«, sagt sie leise, mit jener niedlichen Aussprache meines Namens, der auf Altgriechisch ein solcher Zungenbrecher ist. Mir kommen beinahe die Tränen, als mir klar wird, dass sie außer dem inzwischen vielleicht schon toten Nightenhelser der einzige Mensch auf Erden ist, der meinen Namen kennt. »Bist du verletzt, Hock-en-bär-iihh?«
    »Verletzt?«, bringe ich heraus. »Nein. Ich bin nicht verletzt.«
    Helena führt mich ins Bad, das an ihr Schlafgemach grenzt. Dort habe ich sie in jener Nacht zum ersten Mal gesehen. Auch hier brennen Kerzen, ein Becken ist mit Wasser gefüllt, und ich sehe mein Spiegelbild – rotäugig, stoppelwangig, erschöpft. Mir wird klar, dass ich nicht mehr geschlafen habe seit … wie lange? Ich weiß es nicht mehr. »Setz dich«, sagt Helena, und ich sinke auf den Rand der marmornen Wanne. »Weshalb bist du gekommen, Hock-en-bär-iihh?«
    Ich suche stockend nach Worten. »Ich habe versucht, den Angelpunkt zu finden«, erkläre ich und erzähle ihr von meiner nutzlosen Scharade bei Achilles, der Entführung des Patroklos, meinem Plan, die Heldes des Krieges gegen die Götter zu hetzen, um … alle und alles zu retten.
    »Aber du hast Patroklos nicht getötet?« Der Blick von Helenas dunklen Augen ist angespannt.
    »Nein. Ich habe ihn nur … fortgebracht.«
    »Mit Hilfe der Reisemethode der Götter.«
    »Ja.«
    »Aber du konntest Astyanax, Hektors Sohn, nicht auf dieselbe Weise verschwinden lassen?«
    Ich schüttele stumm den Kopf.
    Ich sehe, wie Helena überlegt. Ihre schönen, dunklen Augen blicken verträumt. Wie kann sie meinen Erklärungen glauben? Für wen hält sie mich wohl? Weshalb hat sie sich meiner angenommen – wobei »angenommen« ein ziemlicher Euphemismus für jene lange, leidenschaftliche Nacht ist –, und was wird sie jetzt mit mir machen?
    Wie um die letzte Frage zu beantworten, steht Helena mit grimmiger Miene auf und verlässt das Bad. Ich höre, wie sie draußen auf dem Gang ein paar Namen ruft, und mir ist klar, dass die Wachen in weniger als einer Minute mit ihr hier sein werden, deshalb hebe ich meine Hand an das schwere QT-Medaillon.
    Mir fällt kein Ort ein, wohin ich gehen kann.
    Mein Taserstab ist noch geladen, doch ich greife nicht danach, als Helena mit mehreren anderen zurückkommt. Aber nicht mit Wachen, sondern mit Mägden. Sklavinnen.
    Eine Minute später ziehen sie mich aus und werfen meine schmutzige Kleidung auf einen Haufen an der Wand. Andere junge Frauen bringen hohe Krüge mit dampfend heißem Wasser fürs Bad herein. Ich erlaube ihnen, mir das Morpharmband abzunehmen, aber das QT-Medaillon halte ich fest. Es sollte nicht nass werden, aber ich will es in Reichweite behalten.
    »Du wirst jetzt baden, Hock-en-bär-iihh«, sagt Helena von Troja. Sie hebt ein kurzes, glänzendes Rasiermesser hoch. »Und dann werde ich dich eigenhändig rasieren. Hier, trink. Das gibt dir deine Energie und deinen Elan zurück.« Sie reicht mir einen Becher mit einer dicken Flüssigkeit.
    »Was ist das?«, frage ich.
    »Nestors Lieblingsgetränk«, erklärt Helena lachend. »Jedenfalls damals, als der alte Narr noch meinen Gatten, Menelaos, zu besuchen pflegte. Es verleiht neue Kraft.«
    Ich schnuppere daran. Mir ist klar, dass ich mich flegelhaft benehme. »Was ist drin?«
    »Wein, geriebener Käse und Gerste.« Helena hebt den Becher näher an meine Lippen, indem sie meine gewölbten Hände nach oben bewegt. Ihre Finger sind sehr weiß auf meiner sonnenverbrannten, schmutzigen Haut. »Aber ich gebe auch Honig hinein, um es zu süßen.«
    »Genau wie Circe«, sage ich und lache dumm.
    »Wer, Hock-en-bär-iihh?«
    Ich schüttele den Kopf. »Nicht so wichtig. Ist aus der Odyssee. Egal. Irreli … irrele …

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