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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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schleunigst wegteleportieren – ob ich zwei weitere Personen mitnehmen kann? Wir werden es gleich herausfinden. Dann muss ich zurückkommen und meine letzten drei Minuten Morphzeit darauf verwenden, Aphrodites Gestalt zu stehlen und Andromache mein Ultimatum zu stellen.
    Wird Hektors Frau hysterisch werden? Wird sie weinen und schreien? Ich bezweifle es. Immerhin hat sie in den letzten Jahren miterlebt, wie Achilles ihren Vater und ihre sieben Brüder tötete, wie ihre Mutter Achilles’ Beute wurde und starb, als sie den Bastard ihres Vergewaltigers gebären sollte, sie hat mit angesehen, wie ihr Heim besetzt und entweiht wurde, und all dies hat sie mit Fassung getragen – nicht nur das, sie hat ihrem Gatten, Hektor, sogar einen gesunden Sohn geboren. Und jetzt muss sie mit ansehen, wie Hektor Tag für Tag ins Gefecht zieht, und sie weiß im tiefsten Innern, dass das Schicksal ihres Geliebten durch den grausamen Willen der Götter längst besiegelt ist. Nein, dies ist keine schwache Frau. Selbst wenn ich ihr in Gestalt von Aphrodite gegenübertrete, sollte ich ein wachsames Auge auf Andromaches Ärmel haben, um sicherzugehen, dass keine Dolche darin verborgen sind, mit denen sie die Nachricht von der Entführung gebührend quittieren könnte.
    Ich greife nach dem Baby. Meine Finger mit den schmutzigen Nägeln sind nur noch wenige Zentimeter von seiner rosafarbenen Haut entfernt, als ich die Hände zurückziehe.
    Ich kann es nicht.
    Ich kann es einfach nicht.
    Wie erschlagen von meiner eigenen Unfähigkeit selbst im Angesicht des Untergangs – des allgemeinen Untergangs, denn selbst die Griechen werden durch ihren Sieg bestraft werden –, taumele ich aus dem Kinderzimmer, ohne mir die Mühe zu machen, den Hades-Helm wieder aufzusetzen.
    Ich umfasse das QT-Medaillon, halte jedoch inne. Wo soll ich hin? Ganz gleich, was Achilles tut, im Grunde ist es jetzt unwichtig. Er kann den Olymp nicht allein erobern, nicht einmal mit dem achäischen Heer, wenn er noch mit den Trojanern im Krieg liegt. Tatsächlich war meine kleine Scharade mit dem Männertöter vielleicht umsonst – Hektor und seine Horden könnten die Achäer an diesem Morgen schlagen, während Achilles sich noch vor Kummer über Patroklos’ scheinbare Ermordung schreiend die Haare rauft. Achilles interessiert sich momentan nicht die Bohne für die Trojaner. Und wenn Hektor und der geheimnisvolle Mann, den Athene Achilles versprochen hat – der ihn zu Hektor bringen und ihm den Weg zum Olymp zeigen würde, wie sie gesagt hat – nicht zu ihm kommen, wird er dann erkennen, dass meine Vorstellung nur Theater war? Wahrscheinlich. Dann wird die echte Athene Achilles einen Besuch abstatten, um nachzusehen, was los ist, wird dem fußschnellen Männertöter gegenüber ihre Unschuld beteuern, und vielleicht – vielleicht – kehrt die Ilias dann in die alten Bahnen zurück.
    Es ist unwichtig.
    Dieser ganze idiotische Plan ist erledigt. Ebenso wie Thomas Hockenberry, Doktor der Philosophie. Schnee von gestern wahrscheinlich.
    Aber wo gehe ich hin, bis die gewalttätige Muse oder die wiedererweckte Aphrodite mich schließlich findet? Soll ich Nightenhelser und den stinksauren Patroklos besuchen? Herausfinden, wie lange die Götter brauchen, um meiner Quantenspur zu folgen, sobald ihnen klar wird, was ich getan habe … zu tun versucht habe?
    Nein. Damit würde ich nur Nightenhelser ins Verderben stürzen. Soll er im Indiana des zwölften vorchristlichen Jahrhunderts bleiben und sich mit den liebreizenden Indianermädchen vergnügen und sich fortpflanzen, vielleicht eine Universität gründen und Altphilologie lehren – obwohl die meisten Geschichten der klassischen Literatur noch gar nicht geschehen sind –, und viel Glück, was Patroklos betrifft; ich verspüre nicht den Drang, ihm noch eine Taserladung zu verpassen, um ihn wieder in Achilles’ Zelt zu schleppen. »Aprilscherz!«, könnte ich meine Dreiminuten-Morph-Athene sagen lassen. »Hier hast du deinen Freund zurück, Achilles. Bist du mir noch böse?«
    Nein, ich lasse sie in Ruhe, dort in Indiana.
    Wo soll ich hin? Auf den Olymp? Die Vorstellung, dass mich die Muse dort sucht, dass Zeus mit seinen Radaraugen zurückkehrt, dass Aphrodite erwacht … nein, nicht auf den Olymp. Nicht heute Nacht.
    Ich denke an einen Ort, stelle ihn mir bildlich vor, lege die Hand an das QT-Medaillon, drehe es und begebe mich dorthin, bevor ich es mir anders überlegen kann.
     
    Ich bin sichtbar, und im sanften Licht der

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