Ilium
gefolgt. Da ich die Anordnung der Räume von diesem Besuch her kenne, qte ich direkt ins Kinderzimmer, das sich nahe bei Andromaches Schlafgemach befindet. Hektors Sohn, noch kein Jahr alt, liegt in einer mit wunderschönen Schnitzereien verzierten Wiege, über die ein Mückennetz drapiert ist. Auf einem Sofa in der Nähe liegt die Amme, die an dem Abend, als Hektor seinen Sohn versehentlich mit dem Spiegelbild in seinem polierten Kriegshelm erschreckt hat, mit Andromache auf den Zinnen Trojas war. Sie schläft ebenfalls tief und fest. Der komplizierte, dekorative Faltenwurf ihres dünnen, durchscheinenden Gewands würde einem Aubrey-Beardsley-Druck alle Ehre machen. Selbst dieses Schlafgewand ist, wie bei den Griechinnen und Trojanerinnen üblich, unmittelbar unter den Brüsten geschnürt, und im reflektierten Lichtschein der Wachfeuer auf der dahinterliegenden Terrasse sieht man, wie groß und weiß der Busen der Amme ist. Ich hatte sie schon vorher für eine Stillamme gehalten. Das ist wichtig, weil mein Plan davon abhängt, dass ich das Baby zusammen mit ihr entführen und Andromache zurücklassen kann – nachdem ihr »Aphrodite« erschienen ist und ihr erklärt hat, das Kind sei zur Strafe für ungenannte Verfehlungen der Trojaner von den Göttern entführt worden, und wenn Hektor es haben wolle, könne er gern auf den Olymp kommen, um es sich zu holen, blablabla.
Zuerst muss ich das Baby aus der Wiege nehmen, dann die Amme packen – vermutlich ist sie stärker als ich und höchstwahrscheinlich auch kampferprobter, also werde ich ihr eine Taserladung verpassen, wenn es sein muss, obwohl ich es lieber nicht täte – und schließlich mit beiden zu jenem Hügel im alten Indiana qten, dessen Bevölkerung sich so rasch vermehrt. Anschließend muss ich Nightenhelser finden – ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit Patroklos mache – und den Scholiker dazu überreden, auf den Säugling und seine Amme aufzupassen, bis ich zurückkomme, um sie zu holen.
Wird Nightenhelser der Aufgabe gewachsen sein, diese trojanische Amme in den Tagen, Wochen oder Monaten zu hüten, bis all dies vorbei ist? Beim Kräftemessen zwischen einem Altphilologen aus dem zwanzigsten Jahrhundert und einer trojanischen Amme von zirka 1200 v. Chr. würde ich mein Geld auf die Amme setzen. Und meinen Gegnern gute Quoten geben. Nun, das ist Nightenhelsers Problem. Ich habe die Aufgabe, ein Druckmittel gegen Hektor zu finden, ihn irgendwie davon zu überzeugen, dass er gegen die Götter kämpfen muss – so wie Patroklos’ »Tod« die aussichtsreichste Möglichkeit war, Achilles für diesen selbstmörderischen Kreuzzug anzuwerben –, und dieses Druckmittel liegt jetzt vor meiner Nase und schläft.
Der kleine Skamandrios, den die Einwohner Iliums liebevoll »Astyanax, Herr der Stadt« nennen, wimmert ein wenig im Schlaf und reibt sich mit winzigen Fäusten die geröteten Wangen. Obwohl ich unter dem Hades-Helm unsichtbar bin, erstarre ich und beobachte die Amme. Sie schläft weiter, aber ich weiß, dass ein richtiger Schrei des Babys sie fast mit Sicherheit wecken wird.
Ich weiß nicht, warum ich die Kapuze des Hades-Helms absetze, aber ich tue es und werde für meine eigenen Augen sichtbar. Es ist niemand anders hier außer meinen beiden Opfern, und die werden in ein paar Sekunden etliche tausend Kilometer entfernt sein und keinem trojanischen Polizeizeichner mehr meine Beschreibung geben können.
Ich schleiche mich auf Zehenspitzen näher heran und entferne das Mückennetz über dem Säugling. Eine Brise weht vom fernen Meer her und bläht sowohl die Terrassenvorhänge als auch den gazeartigeren Stoff um die Krippe herum. Ohne einen Laut von sich zu geben, schlägt das Baby seine blauen Augen auf und schaut mir direkt ins Gesicht. Dann lächelt es mich, seinen Kidnapper, an. Und ich dachte, kleine Kinder im Krabbelalter hätten Angst vor Fremden, erst recht vor Fremden, die mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer stehen. Aber was weiß ich schon von Kindern? Meine Frau und ich hatten nie welche, und alle Studenten, die ich im Lauf der Jahre unterrichtet habe, waren im Grunde halb oder schlecht ausgeformte Erwachsene, schlaksig, ungeschickt, behaart, in gesellschaftlichen Dingen unbeholfen und mit trotteligem Aussehen. Ich hätte noch nicht einmal gewusst, ob Babys, die noch kein Jahr alt sind, lächeln können.
Aber Skamandrios lächelt mich an. Gleich wird er loskrakeelen, und dann muss ich ihn und die Amme packen und uns
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