Ilium
Herrscher, auf dich aufmerksam gemacht hätte, wärst du jetzt weniger als Asche. Nicht einmal dein QT-Medaillon hätte dir die Flucht ermöglicht, denn ich könnte deiner Phasenverschiebungsspur durch Zeit und Raum folgen. Weißt du, weshalb du hier bist?«
Aphrodite ist also meine Schutzpatronin. Sie hat der Muse befohlen, mir diese Geräte zu geben. Was soll ich tun? Auf die Knie sinken? Mich in Gegenwart der Gottheit in den Staub werfen? Wie soll ich sie anreden? In den neun Jahren, zwei Monaten und achtzehn Tagen, die ich nun hier bin, hat noch keine Gottheit meine Existenz auch nur zur Kenntnis genommen, abgesehen von meiner Muse.
Ich beschließe, mich leicht zu verneigen, wobei ich den Blick von ihrer Schönheit abwende, vom Anblick der rosafarbenen Brustwarzen unter der dünnen Seide und der weichen Rundung des Bauches, die Schatten in jenes Dreieck aus dunklem Stoff wirft, wo ihre Schenkel sich treffen.
»Nein, Göttin«, sage ich schließlich. Beinahe hätte ich die Frage vergessen.
»Weißt du, weshalb du zum Scholiker erwählt worden bist, Hockenberry? Weshalb deine DNA von Nanozyten nicht gesprengt werden kann? Weshalb deine Schriften über den Krieg als Faktoren in den Simplex einbezogen wurden, bevor man dich zur Reintegration ausgewählt hat?«
»Nein, Göttin.« Meine DNA kann von Nanozyten nicht gesprengt werden?
»Weißt du, was ein Simplex ist, sterblicher Schatten?«
Ein Herpes-Virus? »Nein, Göttin«, antworte ich.
»Der Simplex ist ein schlichtes geometrisch-mathematisches Objekt, eine Übung in Logistik, ein in sich gefaltetes Dreieck oder Trapezoid«, erklärt Aphrodite. »Allerdings kombiniert mit vielen Dimensionen und Algorithmen, die neue hypothetische Gebiete definieren und mögliche Regionen des n-Raums erzeugen und verformen, wobei Ausschließungsebenen zu zwangsläufigen Konturen werden. Verstehst du nun, Hockenberry? Verstehst du, was das mit dem Quantenraum, der Zeit, dem Krieg dort unten und deinem eigenen Schicksal zu tun hat?«
»Nein, Göttin.« Diesmal zittert meine Stimme. Ich kann es nicht verhindern.
Ein Rascheln von Seide, und ich blicke lange genug auf, um zu sehen, wie die schönste Frau, die es gibt, ihre liebreizenden Gliedmaßen und glatten Schenkel auf der Liege anders hindrapiert. »Macht nichts«, sagt sie. »Du – oder der Sterbliche, der deine Schablone war – hast vor etlichen tausend Jahren ein Buch geschrieben. Erinnerst du dich an den Inhalt?«
»Nein, Göttin.«
»Wenn du das noch ein einziges Mal sagst, Hockenberry, reiße ich dich vom Schritt bis zum Scheitel auf und mache mir Strapse aus deinem Gedärm. Verstehst du das?«
Es ist schwer, ohne Speichel im Mund zu sprechen. »Ja, Göttin«, bringe ich heraus und höre ein trockenes Krächzen.
»Dein Buch hatte 935 Seiten, und es ging nur um ein einziges Wort: Menin. Na, fällt es dir jetzt wieder ein?«
»Nein, G… Ich erinnere mich leider nicht, Göttin Aphrodite, aber du hast gewiss Recht.«
Ich riskiere einen kurzen Blick und sehe, dass sie lächelt. Sie das Kinn in die linke Hand gestützt; die Finger steigen an ihrer Wange zu einer perfekten dunklen Augenbraue empor. Ihre Augen haben die Farbe eines edlen Cognacs.
»Zorn«, sagt sie leise. »Menin aeide thea … Weißt du, wer diesen Krieg gewinnen wird, Hockenberry?«
Jetzt heißt es rasch zu überlegen.
Ich wäre ein ziemlich schlechter Scholiker, wenn ich nicht wüsste, wie das Versepos ausgeht – obwohl die Ilias mit der Bestattungszeremonie für Achilles’ Erzfeind Hektor endet, nicht mit der Zerstörung Trojas, und kein riesiges Pferd erwähnt wird, außer in Odysseus’ Bemerkungen, und die stammen aus einem anderen Epos … aber wenn ich den Ausgang dieses echten Krieges zu kennen behaupte, obwohl aus dem gerade miterlebten Streit hervorgeht, das Zeus’ Edikt, die Götter dürften nicht über die von der Ilias vorhergesagte Zukunft informiert werden, offensichtlich noch in Kraft ist – ich meine, wenn die Götter selbst nicht wissen, was als Nächstes passieren wird, würde ich mich dann nicht über die Götter einschließlich des Schicksals stellen, wenn ich es ihnen sage? Für Hybris hatten diese Götter noch nie allzu viel übrig. Außerdem hat Zeus – der als Einziger die ganze Geschichte der Ilias kennt – den anderen Göttern verboten, solche Fragen zu stellen, und wir Scholiker dürfen uns nur zu vergangenen Ereignissen äußern. Es empfiehlt sich nicht, Zeus zu verärgern, wenn man auf dem Olymp überleben
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