Ilium
Geländer.
»Nein.«
Er dreht sich um und schaut zu mir herab. »Das muss verwirrend sein nach all diesen Jahren der Scholikerweisheit«, sagt er mit grollender Stimme. »Immer zu wissen, was als Nächstes passieren wird, obwohl es nicht einmal die Götter wissen. Du musst dich wie das Schicksal persönlich gefühlt haben.«
»Ich habe mich wie ein Arschloch gefühlt.«
Zeus nickt. Dann zeigt er zu den Streitwagen, die einer nach dem anderen vom Gipfel des Olymp aufsteigen. Es sind Hunderte. »Heute Nachmittag«, sagt Zeus, »werden wir die Menschheit vernichten. Nicht nur diese großspurigen Narren bei Troja, sondern alle Menschen, überall.«
Was kann man zu so etwas sagen? »Das kommt mir ein bisschen übertrieben vor«, bringe ich schließlich heraus. Meine gespielte Tapferkeit wäre überzeugender, wenn meine Stimme nicht immer noch zittern würde wie die eines aufgeregten Kindes.
Zeus blickt zu den startenden Streitwagen und den vielen Göttern und Göttinnen mit goldener Rüstung empor, die noch daraufwarten, ihre Wagen zu besteigen. »Poseidon, Ares und andere drängen mich schon seit Jahrhunderten, die Menschheit auszurotten wie den Virus, der sie ist«, sagt Zeus mit seiner tiefen Stimme mehr zu sich selbst als zu mir, glaube ich. »Wir sind alle besorgt. Dieses Zeitalter der heldischen Menschen, wie man sie bei Ilium sieht, würde jedes Göttervolk mit Sorge erfüllen. Es gibt einfach zu viel Inzucht zwischen ihrem und unserem Volk. Du weißt sicher, welches Ausmaß an DNA-Nanotechnik wir Missgeburten wie Herakles und Achilles durch unseren libidinösen Verkehr – und das meine ich wörtlich – mit Sterblichen weitergegeben haben.«
»Warum erzählt Ihr mir das alles?«, frage ich.
Zeus schaut jetzt wirklich zu mir herunter. Er zuckt die Achseln; seine riesigen Schultern sind zweieinhalb Meter über meinem Kopf. »Weil du in ein paar Sekunden tot sein wirst. Ich kann also offen reden. Auf dem Olymp gibt es keine konstanten Freundschaften, vertrauenswürdigen Verbündeten oder loyalen Kameraden, Scholiker Hockenberry … nur konstante Interessen. Mein Interesse ist es, Herr der Götter und Herrscher des Universums zu bleiben.«
»Das muss ein Fulltime-Job sein«, sage ich sarkastisch.
»Ist es auch«, sagt Zeus. »Ist es auch. Frage nur Setebos oder Prospero oder das Ruhige, wenn du an meinen Worten zweifelst. Nun, hast du irgendwelche letzten Fragen, bevor du uns verlässt, Hockenberry?«
»Ja, habe ich.« Zu meinem Erstaunen zittert meine Stimme nicht mehr, ebenso wenig wie meine Knie. »Ich möchte wissen, wer ihr Götter wirklich seid. Woher kommt ihr? Ich weiß, dass ihr nicht die echten griechischen Götter seid.«
»Ach nein?« Zeus’ Lächeln – spitze weiße Zähne schimmern unter seinem grausilbernen Bart – ist alles andere als väterlich.
»Wer seid ihr?«, wiederhole ich.
Der allmächtige Zeus seufzt. »Ich fürchte, wir haben jetzt keine Zeit für diese Geschichte. Adieu, Scholiker Hockenberry.« Er nimmt die Hände vom Geländer und wendet sich mir zu.
Wie sich herausstellt, hat er Recht – wir haben keine Zeit für diese Geschichte, ebenso wenig wie für irgendetwas anderes. Auf einmal erzittert das hohe Gebäude, knackt und ächzt. Über dem Gipfel des Olymp scheint die Luft selbst dicker zu werden und sich zu kräuseln. Fliegende goldene Streitwagen geraten ins Taumeln, und ich höre die Rufe und Schreie der Götter und Göttinnen unten auf dem Boden.
Zeus taumelt gegen das Geländer zurück, lässt das QT-Medaillon auf den Marmorboden fallen und streckt eine riesige Hand aus, um sich an dem Gebäude festzuhalten, während der hohe Turm in seinen Grundfesten erbebt und in einem Winkel von zehn Grad hin und her schwankt.
Er schaut nach oben.
Der Himmel ist plötzlich voller Streifen. Ich höre Überschallknalle, während eine Feuerlinie nach der anderen den Marshimmel durchschneidet. Hoch über uns, über dem Olymp, erscheinen mehrere rotierende Kugeln oder Kreise, weltraumschwarz und magmarot vor dem Blau. Sie sind wie in den Himmel gestanzte Löcher, und sie sinken rotierend herab.
Unten, tief unten am Fuß des Olymp, sehe ich noch mehr dieser rotierenden Kreise. Jeder hat mindestens den Radius eines Football-Felds. Weitere erscheinen draußen über dem Ozean im Norden, einige schneiden ins Meer selbst hinein.
Tausende von Ameisen kommen durch die Kreise am Fuß des Olymp, und dann erkenne ich, dass die Ameisen Männer sind. Menschen?
Am Himmel wimmelt es jetzt
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