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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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die noch niedrigere Schwerkraft und tiefere Kälte und Dunkelheit draußen abgestoßen hatte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er Harman nichts von seiner Absicht gesagt hatte, mit dem Sonie zurückzukommen, es irgendwie durch die Fensterwand in die Klinik zu steuern und die beiden aufzulesen. Jetzt ist es zu spät, um noch einmal umzukehren und es ihm zu sagen.
    Anfangs, vor einem Monat – vor einer Ewigkeit –, hatte Daeman bei den Touren durch die gläserne Stadt immer Schwierigkeiten gehabt, mit Savi und Harman mitzuhalten, aber jetzt schwamm er durch die dünne Luft wie ein an niedrige Schwerkraft gewöhntes Meeresgeschöpf, ein Glasstadt-Otter, fand immer die richtige Stelle, wo er sich genau im richtigen Moment abstoßen konnte, paddelte mit sparsamen Bewegungen seiner drei freien Gliedmaßen durch die Luft, schlug mit perfektem Timing Purzelbäume und beschrieb Pirouetten, um zum nächsten Pfeiler, Tisch oder auch nur Nachmenschenleichnam zu gelangen, von dem er sich dann zur nächsten Etappe seines Weges abstoßen konnte.
    Er war dennoch nicht schnell genug. Er merkte, wie die Zeit dieses Rennen gewann, während er zu den Paneelen der gläsernen Stadt hinaufschaute; in ihrem erlöschenden Licht vertieften sich die Schatten in den Tangwäldern und auf den mit Leichen übersäten Terrassen, die er passierte. Hier gab es jedoch keine transparenten Paneele, durch die er den heranrasenden Linearbeschleuniger sehen konnte. Werde ich ihn hören, wenn er durch das Glasdach bricht, oder ist die Luft zu dünn für Geräusche?
    Er verdrängte die Frage aus seinem Bewusstsein. Er würde es schon merken, wenn er kam.
    Auf seinem Weg nach Süden wäre Daeman beinahe an dem gläsernen Turm vorbeigeflogen, doch als er hochschaute, sah er, dass er schon unmittelbar unter den Aberhunderten Stockwerken aus Luft war, die über ihm in die Dunkelheit stiegen.
    Er landete auf dem Asteroiden, packte das Rohr mit beiden Händen, drehte sich einmal um die eigene Achse und versuchte, die Dunkelheit nur mit seinen Thermohautgläsern zu durchdringen. Gestalten mit humanoiden Konturen schwebten dort oben; einige waren ziemlich nah, aber ihr zielloses Taumeln deutete darauf hin, dass es NM-Leichen waren, nicht Caliban. Wahrscheinlich.
    Daeman klemmte sich das Rohr unter den Arm, ging tief in die Hocke, dachte an Calibans langarmiges Kauern, imitierte es und stieß sich mit aller verbliebenen Kraft in seinen Beinen und Armen ab. Er schwebte aufwärts, aber langsam, viel zu langsam. Als er die erste vorstehende Terrasse in zwanzig bis fünfundzwanzig Metern Höhe erreichte, kam es ihm vor, als würde er sich kaum bewegen, und als er sich vom Terrassengeländer erneut nach oben abstieß, merkte er, wie schwach er war. Während er hochstieg, behielt er die Schatten im Auge.
    Es waren zu viele. Caliban konnte ihn von jeder dieser dunklen Terrassen anspringen, aber Daeman konnte nichts dagegen tun – er musste nah an der Wand und den Terrassen bleiben, um sich immer wieder abzustoßen, in Bewegung zu bleiben, nach oben zu schweben, zuerst schnell, dann mit nachlassender Geschwindigkeit, bis er die nächste Terrasse wählte. Er fühlte sich wie ein Frosch, der von einem Lilienblatt aus Stein und Metall zum nächsten sprang.
    Auf einmal lachte Daeman laut. Unter dem Dreck, dem Schlamm, dem Blut und dem Schmutz war seine Thermohaut grün. Er sah wirklich wie ein linkischer, dürrer Frosch aus, der sich bei jedem zehnten Geländer jeder zehnten Terrasse zusammenkauerte und senkrecht nach oben abstieß. Sein Lachen hallte hohl durch die Kopfhörer über seinen Ohren und erschreckte ihn, sodass er wieder verstummte, abgesehen von seinem angestrengten Atmen und Grunzen.
    In einer Aufwallung von Furcht hielt Daeman inne und machte einen Purzelbaum, während er höher hinaufschwebte. Bin ich schon an der Ebene vorbei, auf der draußen das Sonie steht? Der Abstand zum Boden unten war unglaublich – mindestens dreihundert Meter leerer Raum –, und das Sonie war nur … im wievielten Stock? Mit panischem Herzklopfen versuchte Daeman, sich das Holobild in Prosperos kleinem Kontrollraum in Erinnerung zu rufen. In hundertfünfzig Meter Höhe? In zweihundert?
    Krank vor Angst, übers Ziel hinausgeschossen zu sein, schwebte Daeman weiter von der Wand weg und musterte die Glasscheiben. Die meisten leuchteten in jenem blassen, immer schwächer werdenden Orange. In dieser Höhe waren einige durchsichtig; das Erdlicht ließ sie silbern erglänzen. Keine wies die

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