Ilium
–, hob dann den Blick zum aufklarenden Himmel mit seinen Sternen und sich drehenden Ringen und schwang ein Bein übers Geländer. Sie fühlte den glatten, nassen Bambus an der Innenseite des Schenkels, bevor sie barfuß hinaustrat und sich am dünnen Rand der Trennwand entlangtastete.
Eine Sekunde lang war sie nur durch den Druck ihrer Zehen und Fingerspitzen mit der Veranda verbunden. Sie tastete blindlings auf der anderen Seite der Trennwand nach dem entsprechenden schmalen Sims und spürte, wie die Schwerkraft sie in die Leere hinabzog. Was wäre das für ein Gefühl, so tief zum brennenden Magma hinunterzufallen, in dem Wissen, dass ich nach ein paar schrecklichen und völlig schwerefreien Minuten des Sturzes tot wäre? Sie wusste, dass sie es nie erfahren würde. Wenn sie jetzt losließ, wenn ihre nackten Zehen und Finger jetzt abrutschten, würde sie sich nach dem Erwachen in den Klinik-Tanks nicht mehr an die nächsten Sekunden und Minuten erinnern. Die Nachmenschen gewährten den Menschen keine Erinnerungen an den eigenen Tod.
Ada drückte ihre Brüste an den Rand der Trennwand, rang um ihr Gleichgewicht und schwang das linke Bein herum. Ihr nackter Fuß fand den schmalen Bambusgrat, der zu Harmans Veranda zurückführte. Sie wagte es nicht, den Blick zu heben, um festzustellen, ob Harman draußen auf seinem Balkon oder an der Glastür war; sie konzentrierte sich völlig darauf, dass ihre Zehen und Finger nicht von dem nassen, glitschigen Bambus-Drei abrutschten.
Sie erreichte die Veranda, trat auf deren Rand und klammerte sich so fest ans Geländer, dass ihre Arme zitterten. Als sie spürte, wie ihre Kräfte in dem Schwächeanfall nach dem Adrenalinstoß nachließen, schwang sie rasch das linke Bein übers Geländer; sie merkte, wie der Hausmantel aufklaffte, und schürfte sich die Rückseite ihres Beines an einem Grat auf.
Harman hockte im Schneidersitz auf einer weiß gepolsterten Chaiselongue und beobachtete sie. Sein Balkon wurde von einer einzigen Kerze mit Glasschirm erleuchtet.
»Du hättest mir helfen können«, flüsterte sie, ohne zu wissen, warum sie es sagte oder warum sie flüsterte. Sie sah, dass Harman ebenfalls nur einen dünnen Gästehausmantel aus Seide trug, der nur lose zugebunden war.
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du hast das prima gemacht. Aber warum bist du nicht einfach rübergekommen und hast an die Tür geklopft?«
Ada holte tief Luft und löste wie zur Antwort den Gürtel ihres Hausmantels, sodass er sich öffnete. Der Luftzug vom Krater war kühl, aber in der Brise, die über ihren Bauch strich, lagen auch wärmere Strömungen.
Harman stand auf, kam zu ihr herüber und schaute ihr in die Augen. Er schloss ihren Hausmantel und band ihn zu, ohne sie dabei zu berühren. »Ich fühle mich geehrt«, sagte er, jetzt ebenfalls im Flüsterton. »Aber noch nicht, Ada. Noch nicht.« Er nahm sie an der Hand und führte sie zur Chaiselongue.
Sie setzten sich nebeneinander. Ada zwinkerte überrascht und errötete beinahe beschämt – ob wegen der Zurückweisung oder wegen ihrer eigenen Unverfrorenheit, wusste sie nicht genau. Harman langte hinter das Sofa und holte zwei cremefarbene Turin-Tücher hervor. Er faltete sie, sodass die mit Stickereien verzierten Mikroschaltkreise richtig positioniert waren. »Ich möchte nicht …«, begann Ada.
»Ich weiß. Nur dieses eine Mal. Ich glaube, dass etwas Wichtiges passieren wird. Lass uns das gemeinsam erleben.«
Sie sank in das weiche Kissen zurück und ließ sich von Harman das Turin über die Augen ziehen. Sie fühlte, wie er sich neben sie legte. Seine rechte Hand lag locker auf ihrer linken. Die Bilder, Töne und Sinneseindrücke strömten herein.
11
Die Ebene von Ilium
Die Götter sind herabgekommen, um zu spielen. Genauer, sie sind herabgekommen, um zu töten.
Die Schlacht tobt nun schon eine geraume Weile. Apollo spornt die Trojaner an, Athene die Argeier, und andere Götter haben es sich im Schatten eines Baumes auf dem nächsten Hügel bequem gemacht; manchmal lachen sie, und Iris und ihre anderen Diener schenken ihnen Wein ein. Ich habe gesehen, wie der thrakische Führer Peireos, ein kühner Verbündeter der Trojaner, den grauäugigen Diores mit einem Stein tötete. Diores, einer der Führer des epeischen Kontingents der Griechen, ging mit gebrochenem Knöchel zu Boden, nachdem der vom Kampf in Raserei versetzte Peireos den Stein geworfen hatte, aber die meisten Kameraden von Diores wichen zurück, und Peireos
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