Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
derart unterschätzt worden war –, versetzte Ada noch mehr in Erstaunen. Ihr war noch nicht einmal den Begriff »Karte« untergekommen, bevor Harman ihr vor nicht ganz einer Woche die grafische Darstellung gezeigt hatte. Harman hatte ihr auch erklärt, die Erde sei eine Kugel. Wie viele von Adas Freunden und Freundinnen wussten das? Wie viele von ihnen hatten sich schon einmal gefragt, welche Form die Welt hatte, auf der sie lebten? Und was nützte dieses geheime Wissen? Die »Welt« war die Heimat, und das Faxnetz benutzte man, um seine Freunde zu Hause zu besuchen. Wer dachte schon über die Form des physischen Gebildes nach, das unter und neben diesem Faxnetz lag? Und wozu auch? Ada wusste schon nach jenem ersten Wochenende mit Harman, dass das Interesse des Mannes an den längst verschwundenen Nachmenschen an Besessenheit grenzte. Nein, verbesserte Ada, während sie im warmen Badewasser lag und mit ihren langen, blassen Fingern Blasen von den Brüsten zum Hals hochsteigen ließ, er ist davon besessen. Er kann nicht aufhören, über die Nachmenschen nachzudenken, wo sie sind, warum sie verschwunden sind. Weshalb tut er das?
    Ada kannte die Antwort natürlich nicht, aber inzwischen teilte sie Harmans leidenschaftliche Neugier. Sie betrachtete sie als ein Spiel, ein Abenteuer. Und sie stellte immer wieder Fragen, die all ihre anderen Freunde einfach nur zum Lachen gebracht hätten: Weshalb gibt es nur genau eine Million von uns Menschen? Weshalb haben die NMs diese Zahl gewählt? Wieso ist es nie einer mehr oder einer weniger? Und warum ist jedem von uns eine Lebensspanne von hundert Jahren bestimmt? Warum retten sie uns sogar vor unserer eigenen Torheit, damit wir hundert Jahre leben können?
    Diese Fragen waren so einfach und so elementar, dass sie nachgerade peinlich waren – es war, als hörte man einen Erwachsenen fragen, warum wir ein Bauchknöpfchen haben.
    Doch Ada hatte sich der Suche angeschlossen – nach einer Flugmaschine, vielleicht einem Raumschiff, mit dem man zu den Ringen fliegen konnte, um mit den Nachmenschen persönlich zu sprechen, und nun nach der Ewigen Jüdin, dieser Legende aus der Zeit des letzten Faxes –, und jeder neue Tag brachte weitere Aufregungen.
    Wie zum Beispiel, dass Daeman von einem Allosaurier gefressen worden ist.
    Ada errötete und sah, wie sich ihre helle Haut bis zur Wasser-Blasenlinie rot färbte. Das war furchtbar peinlich gewesen.
    Keiner der anderen Gäste konnte sich erinnern, dass so etwas schon jemals passiert war. Warum hatten die Voynixe nicht besser aufgepasst?
    Was genau sind eigentlich die Voynixe?, hatte Harman sie vor zwölf Tagen in dem Baumhaus-Komplex in der Nähe von Singapur gefragt. Woher kommen sie? Haben die Menschen des Untergegangenen Zeitalters sie gebaut? Sind sie ein Produkt des Rubikon-Wahnsinns? Haben die Nachmenschen sie geschaffen? Oder sind sie Fremde auf dieser Welt und in dieser Zeit und verfolgen hier ihre eigenen Ziele?
    Ada erinnerte sich an ihr unbehagliches Gelächter an jenem Abend, als sie auf der weinumrankten Terrasse saßen, ein Glas Champagner in der Hand, und er in so ernstem Ton derart absurde Fragen stellte. Aber sie hatte sie damals nicht beantworten können – ebenso wenig wie ihre Freunde in den Tagen seither, obwohl deren Gelächter noch nervöser gewesen war als ihr eigenes –, und nachdem Ada die Voynixe ein Leben lang jeden Tag gesehen hatte, betrachtete sie sie nun mit einer Neugier, die an Besorgnis grenzte. Hannah hatte auf die gleiche Weise zu reagieren begonnen.
    Was bist du?, hatte sie sich just an diesem Abend gefragt, als sie in Paris-Krater aus ihrer Kalesche gestiegen waren und den scheinbar augenlosen Voynix dort hatten stehen lassen, sein verrosteter Panzer und die ledrige Haube naß vom Regen, seine tödlichen Klingen eingezogen, die ausgefahrenen und gekrümmten Manipulatorpfoten jedoch immer noch um die Deichseln ihrer Kutsche geklammert.
    Ada stieg aus dem Wasser, trocknete sich ab, schlüpfte in einen dünnen Hausmantel und befahl den Servitoren, sie allein zu lassen. Sie zogen sich durch eine ihrer osmotischen Wandmembranen zurück. Ada trat auf den Balkon hinaus.
    Harmans Zimmer mit Balkon grenzte rechts an ihres, aber eine engmaschige Bambusfaserwand, die sich einen knappen Meter über das Verandageländer hinaus erstreckte, gewährleistete die Intimsphäre auf den Veranden. Ada ging zu der Trennwand, blieb einen Moment lang am Geländer stehen – schaute in den rotäugigen Krater hinunter

Weitere Kostenlose Bücher