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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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seinen starren braunen Augen eingefrorene Angst sehen kann. Wenn Homer all dies korrekt wiedergegeben hat, wird Phegeus in weniger als einer Minute tot sein.
    Nun sehe ich, wie sich andere Götter an der Stätte des Kampfes versammeln wie Aaskrähen beim Schlachten. Ares, der Kriegsgott, nimmt auf meiner Seite der Kampflinien Gestalt an, tritt an den in der Zeit still stehenden Streitwagen mit Idaios und seinem todgeweihten Bruder heran und öffnet sein eigenes Kraftfeld hinter dem Gefährt, das die beiden Brüder dem Tod entgegenträgt.
    Weshalb interessiert es Ares, was mit diesen beiden geschieht? Sicher, Ares ist kein Freund der Griechen – er hat sie in diesem Krieg offenkundig hassen gelernt und tötet sie durch seine Werkzeuge oder auch eigenhändig, wenn er kann –, aber warum diese sichtbare Sorge um Phegeus oder seinen Bruder Idaios? Ist es nur ein Gegenzug gegen Athenes Strategie, Diomedes aufzurüsten? Dieses Schachspiel mit echten Menschen, die stürzen, schreien und sterben, ist für mich inzwischen abgeschmackt, eine Obszönität. Aber die Strategie fasziniert mich nach wie vor.
    Dann fällt mir ein, dass der Gott des Krieges ein göttlicher Halbbruder von Hephaistos ist, dem Gott des Feuers; beider Mutter ist Hera, Zeus’ Gemahlin. Dares, der Vater von Phegeus und Idaios, hat dem Gott des Feuers in den Mauern Trojas lange Zeit treue Dienste geleistet.
    Dieser idiotische Krieg ist so kompliziert und sinnlos wie der Vietnamkrieg, an den ich mich aus meiner Jugend noch undeutlich erinnere.
    Plötzlich qtet Aphrodite, meine neue Führungsoffizierin und Chefin, dreißig Meter links von mir ins Dasein. Sie ist ebenfalls hier, um den Trojanern zu helfen und sich an dem Gemetzel zu delektieren. Aber …
    In den letzten Sekunden, bevor die Echtzeit weiterläuft, fällt mir ein, dass Aphrodite in der kommenden Stunde von Diomedes verwundet werden wird, sofern das Kampfgeschehen der Schilderung des alten Versepos entspricht. Weshalb sollte sie herunterkommen und sich ins Getümmel stürzen, wenn sie weiß, dass ein Sterblicher sie verletzen wird?
    Die Antwort ist dieselbe wie jene, die mir in den vergangenen neun Jahren immer wieder so nachdrücklich ins Gedächtnis gerufen worden ist, aber jetzt trifft sie mich mit der Wucht und dem grellen Blitz einer Atomexplosion – die Götter wissen nicht, was als Nächstes geschehen wird! Offenbar darf keiner außer Zeus einen Blick nach vorn auf die Checkliste des Schicksals werfen.
    Scholiker wissen das allesamt – Zeus hat uns verboten, mit den Göttern über künftige Geschehnisse zu sprechen, und sie dürfen uns nicht nach den späteren Gesängen der Ilias fragen. Unsere Aufgabe besteht nur darin, im Nachhinein zu bestätigen, dass Homers Ilias mit den von uns pflichtgemäß beobachteten und aufgezeichneten Tagesereignissen übereinstimmt. Etliche Male haben Nightenhelser und ich zugesehen, wie die kleinen grünen Männchen ihre Gesichtssteine zur Küste schleppen, wenn die Sonne im Westen hinter dem Meer untergeht, und uns dabei über diese paradoxe Blindheit der Götter in Bezug auf die bevorstehenden Ereignisse unterhalten.
    Ich weiß, dass Aphrodite heute verletzt werden wird, aber die Göttin selbst weiß es nicht. Was kann ich mit dieser Information anfangen? Wenn ich es Aphrodite sage, erfährt es Zeus – wie, weiß ich nicht, aber er erfährt es –, dann werde ich atomisiert, und Aphrodite erhält irgendeine mildere Strafe. Wie kann ich mir die Information zunutze machen, dass Aphrodite, die Göttin, die mir meine Spionageausrüstung gegeben hat, heute von Diomedes verwundet wird oder verwundet werden könnte?
    Mir bleibt keine Zeit, die Antwort darauf zu finden. Athene ist fertig mit Diomedes und löst ihren Griff auf Raum und Zeit. Mit einem Schlag setzt die Wirklichkeit wieder ein – richtiges Licht, schrecklicher Lärm, hektische Bewegung. Diomedes macht ein paar Schritte nach vorn; sein Körper, sein Gesicht und sein Schild erstrahlen in einem Licht, das offenbar auch für die anderen Sterblichen sichtbar ist, für seine achäischen Kampfgefährten ebenso wie für die gegnerischen Trojaner.
    Idaios beendet den Peitschenhieb, mit dem er seine Pferde antreibt. Der Streitwagen rumpelt und poltert in Richtung der griechischen Gefechtslinie; er hält direkt auf den verblüfften Diomedes zu.
    Phegeus schleudert seinen Speer nach Diomedes und verfehlt ihn um Haaresbreite; die Speerspitze fliegt über die linke Schulter des Tydeussohnes hinweg.
    Mit

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