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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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bahnte sich mit dem Schwert seinen Weg durch die Wenigen, die geblieben waren, um ihren gestürzten Hauptmann zu bewachen, und der arme Diores musste mit zertrümmertem Knöchel hilflos liegen bleiben, als Peireos auf ihn zustürmte, dem Thraker seinen langen Wurfspeer in den Bauch stieß, ihm die Gedärme an der mit Widerhaken versehenen Speerspitze aufspießte und sie dem Mann unter dessen gellenden Schreien aus dem Leib riss.
    Von dieser Art war die Schlacht in der letzten halben Stunde, und es war wie eine Erlösung, als Pallas Athene die Hand hob, von den zuschauenden Göttern mit einem Nicken die Erlaubnis erhielt und die Zeit und jede Bewegung abrupt zum Stillstand brachte.
    Mit meinem gesteigerten Sehvermögen, das ich den Kontaktlinsen der Götter verdanke, sehe ich nun, wie Athene auf der anderen Seite des chaotischen Niemandslands aus Lanzen den Sohn des Tydeus, Diomedes, zur Kampfmaschine macht. Ich meine das beinahe wörtlich. Wie die Götter selbst und wie ich wird Diomedes, der Mensch, von nun an zum Teil eine Maschine sein; seine Augen, seine Haut und sogar sein Blut werden durch Nanotechnik aus einer fernen Zukunft weit jenseits meiner kurzen Lebensspanne verbessert. In der still stehenden Zeit setzt Athene dem Achäer Kontaktlinsen ein, die meinen ähneln und mit denen er sowohl die Götter sehen als auch, wenn er sich im dichtesten Kampfgetümmel konzentriert, irgendwie die Zeit ein wenig verlangsamen und damit – aus der Sicht des nicht aufgerüsteten Zuschauers – seine Reaktionszeit um das Dreifache steigern kann. Homer hatte geschrieben, Athene »ließ ihm lodern aus Helm und Schild unermüdliches Feuer«, und jetzt verstehe ich die Metapher; mit Hilfe der Nanotechnik in ihrer Handfläche und ihrem Unterarm verwandelt Athene das schwache Magnetfeld um Diomedes’ Körper in ein richtiges Kraftfeld. Im Infrarotbereich leuchten sein Körper, seine Arme, sein Schild und sein Helm auf einmal so, dass er »dem Glanzgestirne der Herbstnacht« gleicht. Während ich Diomedes nun im satten Bernsteingelb der von den Göttern angehaltenen Zeit leuchten sehe, wird mir klar, dass Homer den Sirius gemeint haben muss, den Hundsstern, der im Spätsommer als hellster Stern am griechischen (und trojanischen) Himmel aufsteigt. In dieser Nacht steht er am Osthimmel.
    Vor meinen Augen spritzt sie Diomedes obendrein Milliarden nanotechnischer Molekularmaschinen in den Schenkel. Wie immer behandelt der menschliche Körper eine solche Nano-Invasion wie eine Infektion, und Diomedes’ Temperatur steigt um mindestens fünf Grad. Ich sehe, wie die Invasionsarmee der Molekularmaschinen vom Schenkel zum Herzen hochsteigt, vom Herzen in die Lungen und Arme und wieder in die Beine wandert. Die Wärme lässt seinen Körper in meiner Infrarotsicht noch heller leuchten.
    Überall um mich herum ruht das Töten auf dem Schlachtfeld für diese sich hinziehenden Minuten. Zehn Meter links von mir sehe ich einen Streitwagen, der in einer Wolke aus Staub, menschlichem Schweiß und Pferdespeichel erstarrt ist. Der trojanische Wagenlenker – ein kleiner, ausgeglichener Mann namens Phegeus, Sohn von Trojas oberstem Priester des Gottes Hephaistos und Bruder des stämmigen Idaios; in meinen gemorphten Verkleidungen habe ich mit Idaios in den letzten paar Jahren ein Dutzend Mal Brot gebrochen und Wein getrunken – ist versteinert, während er sich gerade über das Vorderteil seines Streitwagens beugt, die linke Hand um dessen Rand geklammert, einen langen Wurfspeer in der rechten. Idaios, der neben seinem Bruder steht, drischt mit der Peitsche auf die mitten in der Bewegung erstarrten Pferde ein und hält mit der anderen Hand die straffen Zügel fest. Der angehaltene Streitwagen rast direkt auf Diomedes zu; keiner der menschlichen Mitwirkenden hier ahnt etwas davon, dass die Göttin Athene alles gestoppt hat und mit ihrem erwählten Champion wie mit einer Puppe spielt, ihn mit Kraftfeldern, Durchblick-Kontaktlinsen und Nanoverstärkern einkleidet wie ein vorpubertäres Mädchen seine Barbie. (Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen, das mit Barbie-Puppen spielt, vielleicht eine Schwester aus meiner eigenen Kindheit. Ich glaube nicht, dass ich eine Tochter hatte. Aber natürlich bin ich nicht sicher, weil die in den vergangenen Monaten zurückgekehrten Erinnerungen wie Glasscherben mit getrübten Spiegelungen sind.)
    Ich bin so nah bei dem Streitwagen, dass ich die in Phegeus’ gebräuntes Gesicht gemeißelte Kampfeslust und die in

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