Ilium
anderen Scholiker auf dem Schlachtfeld aus. Für das bloße Auge ist Nightenhelser nur einer von vielen schlampigen trojanischen Fußsoldaten, die sich aus dem dichtesten Kampfgetümmel heraushalten, aber ich sehe den verräterischen grünen Schimmer, mit dem die Götter uns Scholiker markiert haben, selbst wenn wir gemorpht sind, deshalb nehme ich den Hades-Helm ab und die Gestalt von Phalkes an – einem Trojaner, der irgendwann von Antilochos getötet werden wird – und gehe zu Nightenhelser hinüber, der auf einer kleinen Anhöhe steht und auf das Gemetzel hinabschaut.
»Guten Morgen, Scholiker Hockenberry«, sagt er, als ich mich zu ihm geselle. Wir sprechen Englisch. Kein anderer Trojaner ist nahe genug, um uns über das Klirren von Metall und das Rumpeln der Streitwagen hinweg zu hören, und diese bunt zusammengewürfelten Koalitionen sind ohnehin beide an merkwürdige Stammessprachen und Dialekte gewöhnt.
»Guten Morgen, Scholiker Nightenhelser.«
»Wo sind Sie die letzte halbe Stunde gewesen?«
»Ich habe eine Pause eingelegt.« So etwas kommt vor. Manchmal geht das Gemetzel sogar uns Scholikern über die Hutschnur, und dann qten wir für eine ruhige Stunde – oder einen großen Krug Wein – nach Troja. »Habe ich viel verpasst?«
Nightenhelser zuckt die Achseln. »Diomedes ist vor ungefähr zwanzig Minuten angestürmt gekommen und von einem Pfeil getroffen worden. Genau zum vorgesehenen Zeitpunkt.«
»Von Pandaros’ Pfeil«, sage ich mit einem Nicken. Pandaros ist der trojanische Bogenschütze, der zuvor Menelaos verwundet hat.
»Ich habe gesehen, wie Aphrodite Pandaros dazu angestiftet hat«, sagt Nightenhelser. Der große, schwere Mann hat die Hände in den Taschen seines groben Umhangs. Trojanische Umhänge hatten natürlich keine Taschen, deshalb hat Nightenhelser sich welche einnähen lassen.
Das ist eine Neuigkeit. Bei Homer steht nichts davon, dass Aphrodite Pandaros gedrängt hat, auf Diomedes zu schießen, sondern nur, dass Athene den Bogenschützen zuvor veranlasst hatte, Menelaos zu verwunden, damit der Krieg weiterging. Der arme Pandaros ist an diesem Tag – seinem letzten Tag – buchstäblich ein Spielball der Götter.
»Fleischwunde?«, frage ich.
»An der Schulter. Sthenelos war da und hat den Pfeil rausgezogen. Offenbar war er nicht vergiftet. Athene ist vor einer Minute ins Getümmel geqtet, hat ihren Liebling Diomedes beiseite genommen und ›ihm die Glieder leicht gemacht, die Füße und die Hände darüber‹.« Nightenhelser zitiert eine Homer-Übersetzung, die ich nicht kenne.
»Noch mehr Nanotech«, sage ich. »Hat Diomedes den Bogenschützen schon gefunden und getötet?«
»Vor ungefähr fünf Minuten.«
»Hat Pandaros vor seinem Tod noch diese endlos lange Rede gehalten?«, frage ich. In meiner Lieblingsübersetzung beklagt Pandaros vierzig Zeilen lang sein Schicksal, hat ein langes Zwiegespräch mit einem trojanischen Hauptmann namens Äneas – ja, dem Äneas –‚ und die beiden greifen Diomedes mit einem Streitwagen an und schleudern Speere auf den verwundeten Achäer.
»Nein«, sagt Nightenhelser. »Pandaros hat bloß ›Mist, verdammter‹ gesagt, als der Pfeil danebenging. Dann ist er zu Äneas auf den Streitwagen gesprungen, hat einen Speer geworfen, der Diomedes’ Schild und Panzer durchschlug – ohne ihm die Haut zu ritzen –, und in der Sekunde, bevor Diomedes’ Speer ihn genau zwischen die Augen traf, hat er ›Scheiße‹ gebrüllt. Vermutlich wieder mal so ein Fall von Homers dichterischer Freiheit bei all den Reden.«
»Und Äneas?« Diese Begegnung ist von entscheidender Bedeutung für die Geschichte wie auch für die Ilias. Ich kann nicht glauben, dass ich sie verpasst habe.
»Aphrodite hat ihn gerade gerettet«, bestätigt Nightenhelser. Äneas ist der sterbliche Sohn der Göttin der Liebe, und sie wacht sorgfältig über ihn. »Diomedes hat ihm mit einem Feldstein die Hüftpfanne zerschmettert, genau wie im Gedicht, aber Aphrodite hat ihren verletzten Jungen mit einem Kraftfeld geschützt und trägt ihn nun gerade vom Feld. Diomedes war wirklich stinkesauer.«
Ich beschirme die Augen mit der Hand. »Wo ist Diomedes jetzt?« Aber ich sehe den griechischen Krieger, bevor Nightenhelser ihn mir zeigen kann, ungefähr hundert Meter entfernt, inmitten eines Handgemenges weit hinter den trojanischen Linien. Ein blutiger Nebel hängt um den leuchtenden Diomedes herum in der Luft, und links und rechts von dem um sich schlagenden und
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