Illuminati
bedeutungslos geworden… Gott selbst ist obsolet geworden! Die Wissenschaft hat den Kampf gewonnen. Wir kapitulieren.«
Verwirrtes Gemurmel und befremdete Gesichter in der Kapelle.
»Doch der Sieg der Wissenschaft«, fuhr Camerlengo Ventresca fort, und seine Stimme wurde noch eindringlicher, »hat uns alle einen Preis gekostet. Einen sehr hohen Preis.«
Stille.
»Die Wissenschaft mag das tägliche Elend und die Arbeit erleichtert und gelindert und uns eine Vielzahl von Geräten gebracht haben, die uns das Leben bequem und unterhaltsam gestalten, doch sie hat uns zugleich eine Welt ohne jede Ordnung beschert. Unsere Sonnenuntergänge bestehen nur noch aus Wellenlängen und Frequenzen. Die Komplexität unseres Universums ist aufgeteilt in eine Reihe mathematischer Gleichungen. Sogar unser Selbstwert als menschliche Wesen wurde zerstört. Die Wissenschaft behauptet, dass die Erde und die Menschen darauf nichts weiter sind als ein bedeutungsloser Fleck in einem viel größeren Ganzen. Ein kosmischer Unfall.« Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er fort: »Die Technologie, die uns zu vereinen versprach, teilt uns. Jeder von uns ist heutzutage elektronisch mit der ganzen Welt verbunden, und doch fühlen wir uns unsäglich einsam. Wir werden bombardiert mit Gewalt, Zwist, Teilung und Betrug. Skeptizismus hat sich zu einer Tugend entwickelt. Zynismus und die ständige Forderung nach Beweisen sind zu aufgeklärtem Gedankengut avanciert. Ist es ein Wunder, dass die Menschen heute mutloser und niedergeschlagener sind als je zuvor in der Geschichte? Gibt es irgendetwas, das für die Wissenschaft heilig ist? Sie sucht nach Antworten, indem sie mit ungeborenen Föten experimentiert. Sie maßt sich sogar an, die Erbsubstanz des Menschen zu manipulieren. Sie zerschmettert Gottes Welt in immer kleinere Bruchstücke, auf der Suche nach dem Sinn… und alles, was sie findet, sind weitere Fragen.«
Mortati starrte den Camerlengo voll Ehrfurcht an. Seine Worte besaßen eine fast hypnotische Eindringlichkeit. Seine Bewegungen und seine Stimme waren von einer physischen Kraft, wie der alte Kardinal sie noch niemals vor einem vatikanischen Altar erlebt hatte, geschmiedet aus tiefster Überzeugung und Traurigkeit.
»Der alte Krieg zwischen Wissenschaft und Religion ist vorbei«, sagte der Camerlengo. »Sie haben gewonnen. Aber Ihr Sieg war nicht fair. Sie haben nicht gewonnen, indem Sie Antworten geliefert hätten. Sie haben gewonnen, weil Sie die menschliche Gesellschaft so radikal verändert haben, dass die Wahrheiten, die wir einst als leuchtende Wegweiser betrachteten, heute als unzutreffend dastehen. Die Religion kann nicht mithalten. Die Wissenschaft wächst explosionsartig und vermehrt sich wie ein Virus. Jeder neue Durchbruch öffnet Türen für weitere Durchbrüche. Die Menschheit benötigte Jahrtausende, um vom Rad zum Automobil fortzuschreiten, doch vom Automobil zur Weltraumfahrt waren es nur ein paar Jahrzehnte. Heute messen wir den wissenschaftlichen Fortschritt in Wochen. Wir geraten außer Kontrolle. Der Abgrund zwischen uns einzelnen Menschen wird tiefer und tiefer – und weil die Religion auf der Strecke bleibt, finden wir uns in einem spirituellen Nichts wieder. Wir sehnen uns nach einer Bedeutung, wir schreien danach. Glauben Sie mir, wir schreien! Wir glauben Ufos zu sehen, nehmen an spiritistischen Sitzungen teil, schlucken bewusstseinserweiternde Drogen – all diese exzentrischen Ideen unter dem Deckmantel der Wissenschaft und doch schamlos irrational. Dies sind die verzweifelten Rufe der modernen Seele, einsam und gequält, verkrüppelt durch ihre eigene Erleuchtung und ihre Unfähigkeit, Bedeutung in irgendetwas zu erkennen, das abseits von Technologie zu finden ist.«
Mortati beugte sich unwillkürlich in seinem Sitz vor. Die anderen Kardinale hingen wie er an den Lippen des Camerlengos – und nicht nur sie, sondern die ganze Welt. Der Camerlengo sprach ohne jede Hinweise auf die Heilige Schrift oder Jesus Christus. Er sprach in aufgeklärten Begriffen, unverblümt und klar. Irgendwie gelang es ihm, die moderne Sprache zu treffen, als würden ihm die Worte von Gott selbst in den Mund gelegt, als verkündete er die uralte Botschaft. In diesem Augenblick erkannte Mortati einen der Gründe dafür, dass der verstorbene Papst so große Stücke auf den jungen Geistlichen gehalten hatte. In einer Welt voller Apathie, Zynismus und Vergötterung der Technologie waren Männer wie Camerlengo Ventresca –
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