Illuminati
Gebet versunken vor einem erlöschenden Kaminfeuer.
»Guten Abend, Generaldirektor Kohler«, begrüßte Ventresca seinen späten Gast, ohne die Augen zu öffnen. »Sind Sie gekommen, um mich zu einem Märtyrer zu machen?«
112.
Der Tunnel namens Il Passetto schien kein Ende zu nehmen. Langdon und Vittoria rannten in Richtung Vatikanstadt, und die Fackel in Roberts Hand warf gerade ausreichend Licht, um ein paar Meter weit zu sehen. Die Wände standen eng beisammen, und die Decke war niedrig. Die Luft roch abgestanden. Robert führte, und Vittoria hielt sich dicht auf seinen Fersen.
Der Tunnel führte aus der Engelsburg steil hinauf in den unteren Bereich einer Bastion; von dort aus ging es eben und schnurgerade durch ein Bauwerk, das aussah wie ein römisches Aquädukt, in Richtung Vatikanstadt.
Während Langdon rannte, ging ihm eine Vielzahl düsterer Bilder durch den Kopf. Kohler… Janus… der Assassine… Hauptmann Rocher… ein sechstes Brandzeichen? Ich bin ganz sicher, dass du es kennst, Amerikaner, hatte der Mörder gesagt. Es ist das brillanteste von allen. Langdon hatte nichts darüber gelesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Nicht einmal bei den Konspirationstheoretikern gab es einen Hinweis auf ein sechstes Brandzeichen, und sei es nur gerüchteweise. Vermutungen über einen sagenhaften Goldschatz und einen makellosen Illuminati-Diamanten, das ja, aber nirgendwo auch nur ein Wort über ein sechstes Brandzeichen.
»Kohler kann unmöglich Janus sein!«, erklärte Vittoria kategorisch, während sie durchs Aquädukt rannten. »Das ist absurd!«
Unmöglich war ein Wort, das Langdon seit diesem Abend nicht mehr benutzte. »Ich weiß nicht«, rief er über die Schulter, ohne langsamer zu werden. »Kohler hegt einen tiefen Groll gegen die Kirche, und er besitzt gewaltigen Einfluss.«
»Diese Krise lässt CERN wie eine Horde Ungeheuer dastehen! Max würde niemals etwas unternehmen, das dem Ruf von CERN schaden könnte!«
Tatsächlich hatte CERNs Ruf in dieser Nacht beträchtlichen Schaden genommen, und das nur, weil die Illuminati darauf bestanden hatten, ein Medienspektakel aus dieser Geschichte zu machen. Langdon fragte sich, wie groß der Schaden wirklich war. Kritik von Seiten der Kirche war für CERN schließlich nichts Neues. Je länger Langdon darüber nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob diese Krise CERN nicht sogar Nutzen brachte. Wenn Publicity der Preis war, hatte Antimaterie heute Abend den Jackpot geknackt. Die Welt redete über nichts anderes.
»Sie wissen doch, was der Promoter P. T. Barnum einmal gesagt hat«, entgegnete Langdon über die Schulter. » ›Es ist mir egal, was Sie über mich erzählen, aber sprechen Sie meinen Namen richtig aus!‹ Jede Wette, dass die großen Konzerne insgeheim schon Schlange stehen, um die Antimaterietechnologie zu lizenzieren. Und wenn sie um Mitternacht erst sehen, wie viel Energie in diesem neuen Stoff steckt…«
»Unlogisch«, widersprach Vittoria. »Wissenschaftliche Durchbrüche werden nicht dadurch publiziert, dass man ihre Zerstörungskraft demonstriert. Im Falle der Antimaterie ist das ein schwerer Schlag, glauben Sie mir.«
Langdons Fackel war fast heruntergebrannt. »Vielleicht ist ja alles viel einfacher, als wir bisher geglaubt haben. Vielleicht hat Kohler darauf spekuliert, dass der Vatikan die Antimaterie verschweigen würde – um den Illuminati nicht noch mehr Macht in die Hände zu spielen. Vielleicht nahm er an, dass der Vatikan wie üblich die Öffentlichkeit ausschließen würde, doch der Camerlengo hat die Regeln des Spiels geändert.«
Vittoria antwortete nicht, während sie weiterrannten.
Das Szenario schien plötzlich mehr Sinn zu ergeben. »Ja!«, rief Langdon. »Kohler hat nicht mit der Reaktion des Camerlengos gerechnet! Der Camerlengo hat die vatikanische Tradition der Verschwiegenheit gebrochen und ist an die Öffentlichkeit gegangen. Er hat von der tödlichen Bedrohung gesprochen. Er hat die Antimaterie im Fernsehen gezeigt, um Himmels willen! Es war ein brillanter Schachzug, mit dem Kohler nicht gerechnet hat. Die Ironie an der ganzen Sache ist, dass der heimtückische Anschlag der Illuminati nach hinten losgegangen ist, weil er der Kirche eine neue, starke Führungspersönlichkeit beschert hat. Und jetzt kommt Kohler, um den Camerlengo zu töten!«
»Max ist ein verdammter Bastard«, erklärte Vittoria, »aber er ist ganz bestimmt kein Mörder! Und er hätte sich niemals an der Ermordung
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