Illusion - das Zeichen der Nacht
musste den Nosferatu beseitigen, ehe er wieder zu Kräften kam. Sosehr es sie auch schmerzte, was mit Alex geschehen würde, sie musste es tun.
Aber der Schmerz war entsetzlich. Unerträglich.
Vielleicht drehte sie deshalb genau im Moment des Abschusses den Oberkörper und zielte auf die Waage.
Der Pfeil schoss davon, hinterließ in der Luft einen Feuerschweif und traf mitten in den blauen Sarasvati-Mond.
Einen Moment lang hallte von der Gewölbedecke das Klirren von zersplitterndem Glas wider. Der Saphir war zerborsten.
Jana hatte die Quelle ihrer magischen Fähigkeiten zerstört. Jetzt schlug das Zünglein an der Waage zugunsten der Schale aus, in der das Herz lag.
Der Nosferatu starrte fassungslos auf die leere Schale.
Jana beobachtete, wie seine tote Haut sich plötzlich mit zarten Lichtfäden durchzog, Rissen, die immer breiter wurden und die Pergamentfetzen, aus denen sie sich zusammensetzte, auseinandertrieben. Dazwischen schien gleißend helles, flackerndes Licht hindurch.
Der Nosferatu verbrannte von innen heraus. Dieses Licht kam von Alex’ Seele. Janas Tat hatte ihm die nötige Kraft gegeben, um sich zu befreien.
Jana konnte den Blick nicht von den Hautfetzen lösen, die sich beim Kontakt mit dem Licht kringelten wie Papier, das man ins Feuer wirft. Papier voller seltsamer, unverständlicher Zeichen, deren Bedeutung nun niemand mehr ergründen würde.
Und mit jedem Stück toter Haut, das sich in eine Rußflocke verwandelte, verschwand ein Teil des Tempels. Die Säulen, die mit Symbolen bedeckten Wände, das lotosförmige Kapitell, auf dem die Waage ruhte – alles verschwamm und löste sich in nichts auf.
Innerhalb von Sekunden war der gesamte Körper des Nosferatu zu einem Häufchen Asche verbrannt.
Dann verflüchtigte sich auch die Asche. Und mit ihr der letzte Überrest des Tempels, der noch stand: die Säule mit dem Ibis-Symbol.
Und genau dort, an der Leerstelle, die die Säule hinterließ, sah Jana einen Körper mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden liegen.
Den Körper von Alex.
Kapitel 4
E s verging fast eine Stunde, bevor Alex aufstehen konnte. Sein Atem, anfangs sehr schwach, stabilisierte sich von Minute zu Minute, aber sein Herz schlug immer noch zu schnell und ungleichmäßig. Jana blieb die ganze Zeit an seiner Seite, flüsterte ihm liebevolle Worte ins Ohr, Worte, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Alex versuchte, etwas zu erwidern, aber das Gestammel, das über seine Lippen kam, war nicht zu verstehen. Er merkte es selbst und versuchte, die Schwäche seiner Stimme mit dem Ausdruck seiner Augen wettzumachen. So hatte Alex sie noch nie angesehen, mit dieser Mischung aus Anerkennung und Zärtlichkeit. Es war, als sähe er sie zum ersten Mal wirklich.
Erst als Alex sich aufrichten konnte, blickte Jana sich um. Sie befanden sich in einer Höhle, deren gewölbte Decke teilweise eingestürzt war und bereitwillig Sonnenlicht einströmen ließ. Die Lagune, die vorher unterirdisch gewesen war und jetzt viel größer aussah, spiegelte nun die ganze Pracht dieses Lichts, und ihre Oberfläche wurde schwach vom Wind gekräuselt.
Am Ufer, etwa fünfzig Meter entfernt, lag eine Gondel; eine ganz gewöhnliche Gondel, die an einem schlichten Holzsteg vertäut war. Der Junge, der sie bewachte, saß auf den Planken des Stegs und ließ die Beine über dem Wasser baumeln. Jana konnte ihn nur im Profil sehen, erkannte jedoch sofort Yadia wieder.
Er schien ganz darin vertieft, den Grund der Lagune zu betrachten, so sehr, dass er sich nicht einmal nach ihnen umdrehte; dabei war klar, dass er auf sie wartete.
Jana legte sich Alex’ Arm über die Schulter und half ihrem Freund, zu dem Boot zu gehen. Dabei merkte sie, dass der Kanal, auf dem sie zusammen mit Armand hierher gelangt war, nicht in der Lagune endete. Offensichtlich setzte er sich am gegenüberliegenden Ufer fort, wo er sich durch eine Engstelle zwängen musste, zwischen riesigen Felsen aus weißem Kalkstein hindurch.
Als sie am Boot anlangten, musterte Yadia sie neugierig. »Gratuliere! Habt ihr erreicht, was ihr wolltet?«
Jana runzelte leicht die Stirn. »Was machst du denn hier? Ich dachte, der Nosferatu wäre ›dein Herr‹, so hast du ihn doch genannt. Weißt du nicht, dass er für immer fort ist?«
Yadia nickte, ohne eine Miene zu verziehen. »Das mit dem ›Herrn‹ war nicht so ernst gemeint. Es ist mir völlig egal, was mit dem Nosferatu passiert ist. Ich will nur wissen, ob ihr endlich das Buch gefunden
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