Illusion - das Zeichen der Nacht
Hat Alex, dein Gefangener, das auch gewusst? Nein, du brauchst mir nicht zu antworten: Er hatte keine Ahnung!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, zischte es über die schwarzen Lippen des Nosferatu.
»Und ob du das weißt«, beharrte Jana immer selbstsicherer. »Das Buch der Schöpfung besteht aus zwei Teilen: dem Buch des Todes und dem Buch des Lebens. Glaub mir, Alex, wo auch immer du bist, ich sage die Wahrheit.«
»Mir kannst du nichts vormachen!«, tobte der Nosferatu. »Und außerdem, selbst wenn es so wäre, warum sollte ich dich dann fürchten? Schließlich hast du nicht die andere Hälfte des Buchs, niemand hat sie. Keiner hat sie je gesehen!«
Je länger das Ungeheuer sprach, desto mehr verwischten sich Alex’ Züge auf seinem Gesicht, bis sie ganz verschwunden waren. Jetzt sah der Nosferatu wieder aus wie vorher, ein mumifizierter Leichnam, dessen ausgetrocknete Haut über und über mit Tattoos bedeckt war. Nur wenn er Jana ansah, glomm in seinen Feueraugen noch ein menschlicher Funke, krank und bösartig.
»Niemand hat das Buch?«, wiederholte Jana. »Da irrst du dich aber. Ich habe es. Und dank dir weiß ich jetzt, wie ich es lesen kann. Na, was sagst du dazu? Indem Alex dich wieder zum Leben erweckt hat, hat er den Teil gelesen, in dem es um den Tod geht. Wenn ich jetzt den anderen Teil lese, haben wir das Buch der Schöpfung vervollständigt. Dann haben wir die beiden unversöhnlichen Hälften für immer zusammengefügt. Und das bedeutet, dass du dann nicht mehr existierst.«
Der Nosferatu schlug so heftig mit der Faust an eine der Steinsäulen, dass die Grundmauern des Tempels zitterten. »Du lügst!«, brüllte er. »Niemand hat dieses Buch, niemand! Dajedi hat es jahrelang gesucht und nicht gefunden …«
»Das lag daran, dass er nicht genug Vertrauen hatte. Das Buch wird erst dadurch erschaffen, dass man es sucht, aber dazu muss man daran glauben. Man muss an das Leben glauben.«
Der Nosferatu brach in langes, finsteres Gelächter aus. »Du glaubst nicht an das Leben, Jana«, höhnte er. »Du glaubst an die Macht. Das ist nicht dasselbe.«
Hinter dem immer unmenschlicheren Aussehen des Nosferatu meinte Jana, ein Echo von Alex’ Vorwürfen zu hören, und ihr wurde fast schwindlig. Das magische Gewicht, das sie eigentlich auf die Waagschale lenken wollte, erdrückte sie fast.
Sie würde ihre gesamte Energie brauchen, um es weiterzuleiten, also startete sie schnell einen Gegenangriff. »Die ganze Sache mit dem Gericht ist nur eine absurde Inszenierung, um mir Schuldgefühle zu machen«, argumentierte sie, ohne den Blick von den purpurroten Augen des Nosferatu abzuwenden. »Aber mich kannst du mit deiner Waage der Ungerechtigkeit nicht beeindrucken. Das Herz da ist nicht meins.«
»Aber der Stein schon«, konterte der Nosferatu mit einem fiesen Grinsen. »Vielleicht ist das Problem, dass du gar kein Herz hast.«
»Wie hast du mir den Saphir gestohlen?«, fragte Jana unbeeindruckt. »Ich weiß noch, dass ich ihn in meinem Zimmer im Palast der Wächter auf den Frisiertisch gelegt hatte. Dort müsste er eigentlich geschützt gewesen sein.«
»Weißt du noch, wie ich an deinem Fenster aufgetaucht bin und dich gebeten habe, mich reinzulassen? Mir war klar, dass du mir nicht aufmachen würdest. Aber dann lag da der Saphir. Ich habe eine Position gesucht, wo ich selbst und der Saphir sich im Spiegel des Frisiertischs spiegelten, und dann konnte ich ihn nehmen. Der Rest war ganz einfach. Mithilfe des Spiegelbilds habe ich den echten Stein herbeigerufen.«
»Und ich habe nichts gemerkt. Wie dumm von mir …«
Während sie sprach, war es Jana gelungen, das gesamte Gewicht des Gebäudes auf die Waagschale zu lenken, auf der das Herz lag. Mit einem Ruck senkte sich die Schale um fast zwei Zentimeter nach unten.
Ungläubig starrte der Nosferatu die Waage an. Erst in diesem Moment schien er zu begreifen, was Jana vorhatte.
Diese lehnte nun auch den Kopf an die Säule hinter sich und schloss erschöpft die Augen. Sie war völlig ausgelaugt.
Doch noch immer war die Waagschale mit dem Herzen nicht schwer genug. Die andere Schale, die mit dem Saphir, hing nach wie vor tiefer. Wie konnte das sein? Jana hatte fest daran geglaubt, dass sie es schaffen würde, hatte ihre letzten Kräfte mobilisiert … Ihr musste etwas anderes einfallen, und zwar schnell.
Sie sah das Ungeheuer an. Keine Spur von Alex war mehr an ihm zu entdecken. Und doch war er noch sein Gefangener. Er musste noch irgendwo sein und
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