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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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    Es folgte eine Beschreibung der Leiche, die ich überging.
    Die Ermittlungen hatten zur Beschuldigung und Verhaftung des reichen Antiquitätenhändlers P. P. geführt, der wegen sexueller Belästigung mehrfach vorbestraft war.
    Während des Indizienprozesses war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsanwalt, dem Verteidiger der Nebenklage und den sehr gewieften, teuren Anwälten des Signor P. P. gekommen. Diese hatten mehrfach gegen die – ihrer Meinung nach inquisitorischen und inakzeptablen – Ermittlungsmethoden protestiert und an die Richter appelliert, keinen folgenschweren Justizirrtum zu begehen.
    Nachdem das Gericht fast zwei Tage lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit getagt hatte, war der Antrag des Staatsanwaltes auf lebenslange Freiheitsstrafe abgewiesen worden. Stattdessen wurde ein Freispruch erteilt, der hohe Wellen schlagen sollte.
    Der sichtlich aufgebrachte Staatsanwalt hatte keinerlei Erklärungen abgeben wollen und lediglich eine Berufung angekündigt. Der Verteidiger der Nebenklage hatte die Entscheidung als skandalös bezeichnet, die Anwälte des Signor P. P. hingegen sprachen von einem mutigen und gerechten Urteil.
    Mutig und gerecht. So stand es da.
    Lange saß ich da, führte die Tasse an die Lippen, ohne zu trinken, zündete mir mehrere Zigaretten an, ohne zu rauchen.
    Ich suchte nach einer Erklärung, ohne sie zu finden.
    Schließlich konnte ich nicht länger mit qualmendem Schädel dasitzen und mich vom Barmann verständnislos anstarren lassen. Offenbar war mein Gesicht nicht das ihm gewohnte. Ganz und gar nicht.
    Also ging ich. Ich brauchte nur zehn Minuten bis zu der Adresse. Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffte. Doch als ich auf die Klingelschilder sah, entdeckte ich, was ich bereits wusste. In dem Haus hatte der Antiquitätenhändler P. P. gewohnt.
    Der Vergewaltiger und Kindermörder. Verfluchtes Schwein.
    Wenn jemand das sagen konnte, dann ich.
    Langsam ging ich nach Hause, ohne zu wissen, was ich tun sollte.
    Ich beschloss, ein bisschen mit dem Auto herumzufahren. Vielleicht ans Meer, es war ein schöner Wintertag, kalt und klar.
    Ich stieg ins Auto und wollte gerade losfahren, als ich etwas Hellblaues unter dem Beifahrersitz hervorschimmern sah.
    Das Strohtäschchen.
    Wie ferngesteuert griff ich danach, und abermals überfiel mich die schmerzvolle Traurigkeit des vorigen Abends. Eine herzzerreißende Wehmut.
    Eine Art Sehnsucht nach dem, was nicht geschehen ist und niemals mehr geschehen wird.
    Sie ließ mich nicht los, während ich Richtung Süden fuhr und schließlich an ein paar hohe, steil ins Meer abfallende Klippen kam.
    Das Wasser war kristallklar. Rein, dachte ich.
    Es war der richtige Ort, doch ich musste die richtige Art finden. Die richtigen Worte.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf den Felsen saß und in das klare Wasser hinunterblickte, die kleine, hellblaue Tasche in der Hand.
    Irgendwann kam mir mein Besuch eines Kleinstadtfriedhofes in New England in den Sinn. Es war einer dieser Friedhöfe mit schlichten, weißen Grabsteinen auf einer grünen Wiese gewesen. Die Grabinschrift eines kleinen Mädchens, das mit kaum mehr als sechs Jahren gestorben war – ermordet, nahm ich an –, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Sie lautete:
    DU HAST IN DEINEM KURZEN LEBEN
MEHR GRAUEN ERFAHREN
ALS ES GEBEN SOLLTE IN DER WELT .
NUN , KLEINES MÄDCHEN , RUH DICH AUS .
    Ich sagte es ganz leise vor mich hin, doch hätte jemand neben mir gesessen, er hätte es hören können. Ganz gewiss.
    Ruh dich aus, sagte ich noch einmal, ehe ich das Strohtäschchen hinunter ins Wasser warf, das so klar war. So rein.
    Dann stieg ich ins Auto und fuhr davon.

Mona Lisa

Am 13. November 1999 steht die kleine Maria Mirabela Rafailà, genannt Mona Lisa, an einer Kreuzung am äußersten Stadtrand von Bitonto. Seit einigen Wochen ist sie jeden Tag hier, um zusammen mit ihren großen Schwestern bei den vorbeifahrenden Autofahrern zu betteln.
    Unter den rumänischstämmigen Roma im Lager von Bitonto ist Maria Mirabela recht bekannt. Sie ist sieben Jahre alt, sehr niedlich, sehr aufgeweckt und vor allem sehr gut im Betteln. Es heißt, an einem »Arbeitstag« bekomme sie manchmal fünfzig- bis sechzigtausend Lire zusammen.
    Kurz nach Mittag entfernen sich die beiden großen Schwestern ein Stück, um zu pinkeln. Als sie wenige Minuten später zurückkommen, ist Mona Lisa verschwunden.
    Zwei Tage lang suchen Polizei und Carabinieri die Gegend mit

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