Illusion der Weisheit
habe. Jeden Tag sei er während seiner Streife am Fundort der Leiche vorbeigefahren. Er habe gehört, manche Triebtäter kehrten an den Ort des Verbrechens oder zum Versteck der Leiche zurück, um das während der Vergewaltigung und Ermordung empfundene Machtgefühl wiederaufleben zu lassen.
An jenem Nachmittag wird die Ausdauer des Beamten belohnt. Auf dem Feldweg – den niemand zufällig befährt – parkt am exakten Fundort der Leiche ein Wagen. Darin sitzt ein Mann mit heruntergelassenen Hosen und masturbiert. Der Beamte ruft Verstärkung und setzt die Überwachung fort. Der Mann leistet Widerstand, versucht zu fliehen, wird jedoch gefasst und aufs Revier gebracht.
Der Mann entspricht fast haargenau dem in den zurückliegenden Wochen ausgearbeiteten Täterprofil: Er war nie verheiratet, hat die meiste Zeit bei seiner alten Mutter gelebt, wohnt derzeit allein, übt einen Beruf im Gesundheitswesen aus, weist deutliche Anzeichen geistiger Instabilität auf und – so erklärt er den Ermittlern – verbringt seine Freizeit damit, ziellos mit dem Auto über Land zu fahren. Zudem stammt er aus einem fünfzig Kilometer entfernten Dorf und kann nicht erklären, was er auf diesem abgelegenen Feldweg verloren hat.
Er scheint der ideale Verdächtige zu sein, doch zu seinen Lasten gibt es lediglich Vermutungen und eine Anzeige wegen unzüchtiger Handlungen in der Öffentlichkeit sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt. Also wird eine Hausdurchsuchung durchgeführt, um nach Indizien zu suchen, die ihn mit dem Mädchen oder zumindest mit anderen sexuell motivierten Verbrechen in Verbindung bringen. Fotomaterial über sexuellen Missbrauch von Kindern zum Beispiel.
Doch als die Polizisten seine Wohnung betreten – eine von zweien in einem einstöckigen Gebäude –, wartet die nächste Enttäuschung auf sie. Die Wohnung ist blitzsauber, ordentlich, spärlich möbliert. Es gibt nur wenige Gegenstände und noch weniger Kleidungsstücke, die Küche ist leer, und auch sonst findet sich keinerlei ermittlungsrelevantes Material. Sie wollen schon gehen, als sich ein Inspektor beiläufig nach der anderen Wohnung erkundigt. Der Verdächtige wird unruhig, sagt, sie sei unbewohnt, und die Polizisten werden misstrauisch. Sie beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Mehrmals klopfen sie bei der Wohnung an, doch niemand öffnet, obwohl es schon tiefe Nacht ist. Gerade wollen sie die Tür einbrechen, da zieht der Verdächtige einen Schlüssel hervor und verschafft ihnen Zugang. Es ist seine eigentliche Behausung, wo er schläft und seine Zeit verbringt. Ein entsetzlicher Ort. Es herrscht ein fürchterlicher Gestank. Ein wildes Durcheinander der unmöglichsten Gegenstände. Bücher über Esoterik und schwarze Magie. Eimer voller Urin im Wohnzimmer, in der Küche, im Schlafzimmer.
Es wird eine gründliche Durchsuchung durchgeführt. Als sie abgeschlossen ist, ist es bereits Morgen, doch noch immer kein Hinweis auf irgendwelche Verbrechen und kein konkretes Indiz, das diesen Mann mit dem Tod der kleinen Maria Mirabela in Verbindung bringt.
Während der darauffolgenden Wochen wird das Leben des unheimlichen Mannes regelrecht durchleuchtet. Beschaffung der Telefonlisten, Abhörungen, Beschattungen, Vermögensermittlungen. Eine quälend minutiöse Arbeit, an deren Ende man schließlich am selben Punkt steht wie an jenem weit zurückliegenden Mainachmittag.
Maria Mirabelas Verschwinden liegt nun über sechs Jahre zurück.
Anna und Ileana sind wegen Verleumdung verurteilt worden, nachdem eine eingehende Auswertung ihrer Übersetzungen die unglaubliche Verkettung von Fehlern und Missverständnissen ans Licht gebracht hat.
Maria Mirabelas Eltern sind wegen Unterlassung der Aufsichtspflicht vor Gericht gekommen. Der Vater wurde verurteilt, die Mutter freigesprochen. Ihr Verhalten in dieser haarsträubenden Geschichte bleibt in vielerlei Hinsicht weiterhin rätselhaft.
Der Mörder hat kein Gesicht und läuft frei herum.
Für einige Polizisten und den Staatsanwalt ist dieser Fall zu einer schwärenden Obsession geworden.
Niemand von ihnen gibt es zu. Doch jeder von ihnen weiß es.
Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Städte
Dieser Erzählung liegt eine wahre Begebenheit zugrunde, die sich im Frühjahr 1996 irgendwo auf der Welt in einem Flugzeug zugetragen hat.
»Verzeihen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«
Ich schrak zusammen. Sie hatte ganz urplötzlich gesprochen und ohne mich dabei anzusehen, lediglich mit einer fast
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