Illusion der Weisheit
Unwesen trieb, als Sie schon um die achtzig hätten sein müssen … Sie pflichten mir bestimmt bei, dass gewisse Zweifel an der chronologischen Folgerichtigkeit und damit an der Nachvollziehbarkeit Ihrer Geschichten berechtigt sind.
W: Gar nichts pflichte ich bei.
I: Wieso?
W: Ich sagte Ihnen doch schon, ich bin eine Figur.
I: Ich weiß, ich weiß. Aber haben Sie noch nie von dem Pakt mit dem Leser gehört? Ich will’s Ihnen erklären. Obgleich der Leser weiß, dass die erzählte Geschichte fiktiv ist, reagiert und fühlt er, als wäre sie wahr. Doch um diese Reaktion zu erzielen, muss die Geschichte (oder in Ihrem Fall die Aufeinanderfolge der Geschichten) plausibel sein.
W: Kennen Sie Samuel Taylor Coleridge?
I: Den Dichter? Ja, den kenne ich. Aber was hat der …
W: Wussten Sie, dass von Coleridge der Begriff »Aufhebung der Ungläubigkeit« stammt?
I: Ich kannte den Begriff, wusste aber nicht, dass er von Coleridge ist.
W: Dann wissen Sie, dass die Aufhebung der Ungläubigkeit das Verhalten eines Lesers oder Zuschauers beschreibt, der seine kritischen Fähigkeiten ausschaltet, um über kleinere Unstimmigkeiten hinwegzusehen und das fiktive Werk zu genießen?
I: (gereizt) Kleinere Unstimmigkeiten? Dass Sie sich in Abenteuer stürzen wie ein Fünfundzwanzigjähriger, obwohl Sie schon achtzig sein müssten, halten Sie für eine kleinere Unstimmigkeit? Die Aufhebung der Ungläubigkeit setzt eine interne Kohärenz der Geschichte voraus, auch wenn sie durch und durch fiktiv ist.
W: (mit spöttischem Unterton) Ach …
I: Was soll jetzt dieses »ach«?
W: Nichts, nichts.
I: Nichts? Machen Sie Witze? Antworten Sie mir.
W: Wenn Sie darauf bestehen. Wollen wir hier und jetzt von der Aufhebung der Ungläubigkeit reden?
I: (plötzlich zögerlich) In welchem Sinne?
W: Erscheint Ihnen unsere Unterhaltung nicht auch eine »kleine Unstimmigkeit«?
I: …
W: Ein Beispiel: Halten Sie es wirklich für möglich, dass ich, der Ranger Tex Willer, Coleridge zitiere?
I: Nein, natürlich nicht. Aber dies ist ein …
W: Ein unmögliches Interview, genau. Und niemand kann etwas dagegen einwenden, dass Sie und ich hier sitzen und uns über diese Dinge unterhalten. Übrigens: Wer hat diesen Dialog eigentlich geschrieben?
I: Entschuldigen Sie, aber ich muss schon sagen, das ist wirklich ein unfairer Schachzug. Dies ist ein Meta-Thema, und ich kann Ihnen nicht antworten, wenn Sie die Ebene der dialektischen Auseinandersetzung wechseln.
W: Dann sollten wir es wohl besser dabei belassen. Sind Sie sich eigentlich sicher, dass diese Dinge Sie wirklich interessieren? Unsere Zeit zwischen den Panels läuft ab.
I: Unsere Zeit? Sollte es diese Zeit zwischen den Panels überhaupt geben, dann ist es ausschließlich Ihre.
W: Ausschließlich meine? Wieso, glaubst du, du hättest keine Zwischenräume und keine Zeit zwischen den Panels?
I: Jetzt duzen Sie mich auch noch! Natürlich habe ich die nicht. Ich bin schließlich keine Comicfigur.
W: (seufzt) Und du willst Schriftsteller sein? Was schreibst du denn, Kochbücher? Reiseführer? Wir alle haben Zwischenräume – und Zeit – zwischen den Panels. Wir und ihr. Die einen wissen es und die anderen nicht, das ist der einzige Unterschied, aber wir alle haben sie.
I: (leicht sarkastisch) Und was wäre dann mein Zwischenraum zwischen den Panels?
W: (redet weiter, als hätte er die Frage nicht gehört) Wir alle haben sie, und wie ich schon sagte, es steckt eine Menge in diesen Zwischenräumen. Und da ist die Zeit, die plötzlich vergeht. Wie heißt es noch in diesem Lied? Ich blicke mich um und frage mich, wie meine Jahre und ich überleben konnten. Als ich klein war …
I: Als Sie klein waren? Aber sagten Sie nicht vorhin …
W: (plötzlich sichtlich müde) Ich bin müde. Es ist anstrengend, eine Figur zu sein. Früher oder später merkst du das vielleicht auch. Aber weil wir gleich weggeschickt werden, muss ich dir gestehen, ich habe dir eine Menge Schwachsinn erzählt. Unter anderem: dass ich mich nicht an dich erinnere.
I: Was soll das heißen?
W: Du warst dieses schüchterne Bürschchen mit der Knubbelnase. Immer standest du im Abseits und wurdest von den anderen Jungen gepiesackt, das weiß ich noch genau. Und ich wollte dir helfen, manchmal tatest du mir wirklich leid. Du warst mir als Kind so verdammt ähnlich.
I: Ich … ich kann es einfach nicht glauben. Sie erinnern sich an mich? Also ist alles wahr?
W: Natürlich ist es wahr. Sind wir etwa nicht wahr? Ich weiß
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