Illusion der Weisheit
unmerklichen Kopfbewegung. Und sie war schön, mit ihren hohen Wangenknochen, der breiten Nase, die ihr etwas Entschlossenes und Sympathisches verlieh, und dem langen, dunklen Haar.
»Aber bitte.«
Aber bitte. Seit Ewigkeiten schwor ich mir, diesen Ausdruck nie wieder zu gebrauchen, ebenso wenig wie Grüß dich, Tagchen und ähnlichen Mist.
»Ich würde gern den Namen Ihres Parfüms wissen.«
»Mein Parfüm?«
Sie lächelte leise und wandte sich mir noch ein wenig mehr zu. Auf irgendwie merkwürdige Weise.
»Ja, es ist sehr gut. Es ist herb, aber mit einer süßen Note. Blumen und noch etwas anderes, das ich nicht benennen kann. Ich habe es schon mal gerochen. Vor langer Zeit.«
In einem Laden am Flughafen hatte ich ein Parfüm getestet. Ich wollte es gerade kaufen, als ich zu meinem Gate gerufen wurde. Wie immer hatte ich die Zeit vergessen. Also war ich losgerannt und hatte den Flakon auf dem Regal stehen lassen. Ich konnte mich weder an den Namen noch an die Marke erinnern. Vielleicht hatte ich noch nicht einmal draufgeguckt. Ich sagte es ihr.
Abermals dieses Lächeln, halb entschlossen, halb abwesend. Von weit her.
In dem Moment wurde mir klar, dass sie blind war.
Wir flogen nach Madrid. Von dort würde ich nach Chile starten. Sie würde dort bleiben, sie flog nach Hause.
»Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Ich bin blind.«
Ich sagte nichts. Ich wusste nicht, was. Was sagt man in so einer Situation?
»Sie hatten es schon bemerkt?«
Ich nuschelte irgendetwas Linkisches. Sie lächelte wieder.
»In Madrid nehmen Sie also einen Flug nach Chile.«
»Ja, ich reise geschäftlich dorthin.«
»Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Fotograf.«
»Oh …«
Sie blieb eine Weile stumm.
»Ist Fotograf nicht in Ordnung?« Es sollte ungezwungen und witzig klingen. Aber so richtig entspannt war ich nicht. Irgendwo zwischen Wunsch und Wehmut. Genau diese Worte tauchten vor meinem inneren Auge auf: mixing memory and desire.
»Mein Vater war Fotograf.«
»Ah.«
Als ihr Vater kaum mehr als ein kleiner Junge war, hatte er Robert Capa kennengelernt – mein Idol – und in seiner legendären Agentur Magnum gearbeitet.
Wie Capa war auch er beim Fotografieren eines fernen Krieges gestorben.
Sie war von Geburt an blind. Sie hatte die Fotos des Vaters nie sehen können, genauso wenig wie alles andere. Wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, erzählte er ihr, was er gesehen und fotografiert hatte. Doch ihr genügten die Erzählungen nicht.
»Also kam Papa auf eine Idee. Er fing an, mir Modelle der Städte zu schenken, in denen er gewesen war. Natürlich nicht von allen. Von denen, die er am meisten liebte. So konnte ich sie berühren und kennenlernen. Die Spitzen der Hochhäuser von New York und dazwischen die sanfte Mulde des Central Parks. Die Hügel Roms. Den Parthenon. Er ließ auch ein Modell von Venedig für mich anfertigen, mit den Kanälen, dem Wasser. Mir machte es großen Spaß, nach Venedig zu reisen und meine Finger in die Kanäle zu tauchen.«
Ich betrachtete ihre Hände. Sie lagen auf ihren Schenkeln, auf dem handfesten Stoff ihrer Jeans. Sie waren groß und strahlten Kraft aus. Ich war kurz davor, sie zu berühren.
»Wissen Sie, auch von Geburt an Blinde können Dinge vor sich sehen. Und Farben. Ich weiß natürlich nicht, ob sie mit Ihren übereinstimmen. Aber es sind Farben, leuchtende Flecken und Formen, die auftauchen, wenn ich einen Geruch oder eine Melodie wahrnehme. Vor allem, wenn ich etwas berühre … oder jemanden.«
Ich musste an eine Erzählung von Carver denken. Die von dem Blinden, der zwei Fernseher hatte, ein Farb- und ein Schwarz-Weiß-Gerät. Er schaltete immer den Farbfernseher ein.
»Sie können zuhören. Man trifft nicht oft jemanden, der zuhören kann.«
Und dann, nach einer Pause: »Glauben Sie, dass ich diese Geschichte jedem erzähle?«
»Nein.« Meine Entschiedenheit verblüffte mich.
»So ist es. Ich erzähle das nie. Wieso ich es Ihnen erzählt habe? Ich weiß es nicht.«
»Ich weiß es auch nicht. Aber mir gefällt der Gedanke, dass es einen guten Grund dafür gibt, auch wenn wir ihn nicht kennen.«
Manchmal passiert es, dass man die richtige Antwort gibt und es im selben Moment weiß. Es passiert selten, aber es passiert. Wir wussten es beide.
Also schwiegen wir. Lange, bis das Flugzeug mit dem Landeanflug begann.
Bis ich durch das Fenster die Häuser von Madrid sehen konnte.
Wer weiß, wie sich Madrid unter den Fingern anfühlte. Wer weiß, wie all
Weitere Kostenlose Bücher