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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ländlichen Gegenden in die Ballungsräume und sorgen so für das enorme Wachstum der Vororte und Barackensiedlungen. Ohne Papiere, ohne eine Behausung, die diesen Namen verdient, ohne gesundheitliche Versorgung, ohne Rechte und auch hier den Übergriffen der Paramilitärs ausgesetzt, die in Soacha und vor allem im angrenzenden Ciudad Bolívar (theoretisch ein Stadtteil von Bogotá, aber mit einer Million Einwohnern de facto eine eigene Stadt) ihr Unwesen treiben und in jegliche Arten illegaler Machenschaften verwickelt sind.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Genau wie auch an anderen Orten der Welt mit vergleichbaren Problemen hat es sich die Mission von Ärzte ohne Grenzen zur Aufgabe gemacht, den Desplazados wie auch jedem anderen Opfer der seit Jahrzehnten im Land herrschenden blutigen Konflikte medizinische Grundversorgung, gesundheitliche Aufklärung und psychologische Unterstützung zukommen zu lassen.
    Um den Gegenstand der Ermittlungen zu umreißen, soll an diesem Punkt die Funktion Francesca Colonnas innerhalb der Mission näher erläutert werden.
    Die Arbeitszeiten lauteten wie folgt: von 9 Uhr bis 17 Uhr mit einer Stunde Mittagspause. Jeden Nachmittag um 17 Uhr wurden die Mitarbeiter mit organisationseigenen Transportmitteln in das nahegelegene Bogotá zurückgebracht. Aus den vom Zentrumsleiter Xavier Torres dargelegten Gründen wurde auf die unbedingte Einhaltung dieser Regelung geachtet.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Ich möchte klarstellen, dass die Einhaltung der oben genannten Regel bindend war und ist. Nach der Schließung der Praxis und der Büros hat das Personal ausnahmslos nach Bogotá zurückzukehren. Angesichts des hohen Risikofaktors in Soacha (wegen der hohen Rate städtischer Gewalt und der unverminderten und aggressiven Präsenz paramilitärischer Einheiten, die letztlich nichts anderes sind als gewöhnliche Verbrecherbanden) ist von einem Aufenthalt der Mitarbeiter am Abend oder außerhalb der Öffnungszeiten abzuraten.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: Am Tag des Verschwindens waren wir gegen 15:30 Uhr gerade von einem mobilen Einsatz in den entlegensten und unzugänglichsten Gegenden der Barrios zurück, wo wir Menschen helfen, die es noch nicht einmal ins Gesundheitszentrum schaffen. Francesca ist weggegangen, sie sagte, sie wolle sich Zigaretten kaufen und sei in ein paar Minuten zurück. Zur Schließzeit und Rückfahrt nach Bogotá um 17 Uhr war sie noch immer nicht da. Wir versuchten sie auf ihrem Handy zu erreichen und merkten, dass sie es in der Praxis hatte liegenlassen. Natürlich machten wir uns Sorgen und fingen sofort an zu suchen, zu Fuß und mit dem Auto. Nach zwei Stunden erfolgloser Suche gingen wir zur Polizei, um sie als vermisst zu melden, derweil unsere Dienststelle in Bogotá die italienische Botschaft in Kenntnis setzte.
    Dr. Torres’ Schilderungen bringen die näheren Umstände von Francesca Colonnas Verschwinden knapp und eindringlich auf den Punkt und stehen zudem für die einhellige Sichtweise sämtlicher im Zuge der Ermittlungen Befragter: Das Personal des Gesundheitszentrums, die Polizeibeamten, die Mitarbeiter und Angestellten unserer diplomatischen Vertretung. Auch und gerade wegen der Anwesenheit paramilitärischer Gruppen gilt Soacha nach wie vor als extrem gefährlich. Ursprünglich hatten sich die paramilitärischen Gruppierungen als Opposition zur FARC gebildet, um die Großgrundbesitzer und Unternehmer in Unterstützung der regulären Truppen zu verteidigen. Doch schon bald haben sich diese für ihre brutalen und blutigen Methoden berüchtigten Gruppierungen zu durch und durch kriminellen Banden entwickelt. Das allenfalls laxe Vorgehen der kolumbianischen Behörden legt den mehrfach geäußerten Verdacht auf Verbindungen und Absprachen mit den Führungsspitzen der Milizen nahe.
    Die kolumbianischen Behörden versuchen jedoch, die Anwesenheit paramilitärischer Gruppen in Soacha (wohlgemerkt wurde dort der Präsidentschaftskandidat Luis Carlos Galán während einer Kundgebung erschossen – im Auftrag des berüchtigten Drogenbosses Pablo Escobar) sowie generell rund um die Hauptstadt kleinzureden oder gar abzustreiten. Diese Verharmlosung wird vehement von jedem widerlegt, der im besagten Umfeld lebt und arbeitet.
    Unweit des Gesundheitszentrums von Soacha (in deren Außenbezirken geradezu unmenschliche Zustände herrschen, wovon sich der Unterzeichner bei inoffiziellen Ortsbegehungen persönlich überzeugen konnte) kümmerte sich Dr. Colonna um die medizinische

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