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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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die anderen Städte sich anfühlten, wie einem die ganze Welt erschien, wenn man sie mit den Fingerspitzen sah. Eine unerklärliche Wehmut durchfuhr mich. Ich dachte an all die Leben, die nicht gelebt wurden, und an die Leben der anderen, die wir hinter einem beleuchteten Fenster erahnen, die hastig an uns vorübergehen und verschwinden.
    »Darf ich dein Gesicht berühren?«
    Ich fuhr auf. Ich suchte nach passenden Worten. Um nicht nur Ja zu sagen.
    »Ich will mich an dich erinnern. Ich habe dieses Parfüm, das nicht das deine ist, doch für mich wird es immer zu dir gehören. Wenn ich es wieder rieche, werde ich an dich denken. Ich hätte auch gern dein Gesicht in meinen Fingerspitzen.«
    »Ja.«
    Das Flugzeug setzte zur Landung an. Jetzt hatte sie sich mir gänzlich zugewandt, und es war, als sähe sie mich durch ihre dunklen Brillengläser an. Sie legte ihre Finger an mein Gesicht. Sie waren trocken, kühl und frisch. Sie zeichneten meine Brauen, meine Nase, meinen Mund nach. Die Augen, die ich, ohne es zu merken, geschlossen hatte.
    Ich schauderte, als auch ich ihr Gesicht berührte, während das Flugzeug den Boden berührte.

Zeugenangaben
in Bogotá

Das Strafverfahren wurde durch einen Hinweis der italienischen Botschaft in Bogotá ausgelöst, der sich auf das Verschwinden der Medizinerin Francesca Colonna bezog, die als Freiwillige in der internationalen humanitären Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen tätig gewesen war. Der Vorfall hatte sich auf kolumbianischem Staatsgebiet ereignet.
    Aus den Umständen des Verschwindens (auf die später näher eingegangen werden soll) und den von der kolumbianischen Polizei auch auf inoffiziellem Wege erhaltenen Informationen ergab sich die Vermutung, dass Signora Colonna einem Mord zum Opfer gefallen ist, bei dem der Tatbestand eines politischen Verbrechens naheliegt, welches als solches, wiewohl im Ausland begangen, nach italienischem Recht laut Artikel 8 des Strafgesetzbuches ahndbar ist.
    Auf diese Vermutungen stützten sich die Ermittlungen, im Laufe derer sich schon bald die Notwendigkeit abzeichnete, die kolumbianische Justiz und Polizeibehörde um Mithilfe zu ersuchen. Nachdem ein internationales Rechtshilfeersuchen an Kolumbien gestellt und bewilligt worden war, wurde der unterzeichnende Staatsanwalt der italienischen Republik beauftragt, sich direkt vor Ort an der Ermittlungsarbeit zu beteiligen.
    Dieser Bericht stützt sich vollständig auf die oben genannten, auf kolumbianischem Staatsgebiet durchgeführten Ermittlungen.
    Francesca Colonna, Jahrgang 1970, ledig, ausgediente Militärärztin, beginnt ihre Zusammenarbeit mit der nichtstaatlichen internationalen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Jahr 2004 und beteiligt sich an Missionen in Haiti und Darfur. Ende 2005 kommt Colonna nach Kolumbien, um an der in Soacha – einem westlichen Vorort der Hauptstadt Bogotá – stationierten Mission mitzuwirken.
    Aufgabe dieser Mission ist es, die zahlreichen Desplazados (Vertriebenen), die vor allem in den ärmsten Vierteln der oben genannten Ortschaft Zuflucht suchen, medizinisch und psychologisch zu betreuen.
    Das Flüchtlingsphänomen hat in Kolumbien enorme Ausmaße angenommen. Zum besseren Verständnis des sozialen Umfeldes, in dem die Ermittlungen angestellt wurden, folgt eine kurze Schilderung von Dr. Luis Zamora, Missionsleiter der Organisation Ärzte ohne Grenzen.
    ANTWORTET AUF NACHFRAGE: In Kolumbien leben rund zwei Millionen Flüchtlinge, sogenannte Desplazados . Die enorme Zahl ist der noch immer in weiten Landesteilen herrschenden Konfliktsituation geschuldet. Die Flucht aus den Heimatorten und der sich daraus ergebende konstante Anstieg der Flüchtlingszahlen hat folgende Dynamik: Die paramilitärischen Milizen oder die FARC (ursprünglich an Castro inspirierte Guerillagruppen) – einander seit jeher nicht grün – kommen in die Dörfer, um sich durch die Rekrutierung immer jüngerer Soldaten zu vergrößern. Inzwischen werden sogar Zwölf-, Dreizehnjährige eingezogen. Familien, die sich dieser Maßnahme widersetzen, wird befohlen, Wohnort und Besitz binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Dadurch will man – sofern nicht schon geschehen – verhindern, dass sich die Familien mit dem gegnerischen Lager zusammentun. Wer nicht gehorcht, wird niedergemetzelt. Diese all ihres Besitzes (und häufig auch ihrer Papiere) beraubten Familien, denen noch nicht einmal Zeit bleibt, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen, ziehen dann aus den

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