Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
ich einmal eine Beschreibung, sie lautete ungefähr so: »Er hatte für Straftäter jedweder Art nichts übrig, doch er ließ sich nicht von dem Gedanken verrückt machen, dass die meisten ungeschoren davonkamen, und vor allem hatte er kein Problem damit, zu seinen Irrtümern zu stehen.« Ich glaube, das ist die richtige Herangehensweise. Wenn ich die nötigen Eigenschaften benennen müsste, würde ich sagen: Beobachtungsgabe, die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen, und Sinn für Humor.
    JUNGER MANN : Sinn für Humor?
    ALTER MANN : Genau. Besser gesagt: die Fähigkeit, sich nicht ernst zu nehmen.
    JUNGER MANN : Das verstehe ich nicht. Ich meine, ich verstehe nicht, was das mit Ermittlungsarbeit zu tun hat.
    ALTER MANN : Wenn man sich allzu ernst nimmt, entgehen einem die Kleinigkeiten. An den Tatorten und auf den Gesichtern der Menschen. Die Kleinigkeiten sind fast immer das Wichtigste.
    JUNGER MANN : Nicht nur bei der Ermittlung.
    ALTER MANN : Richtig, nicht nur bei der Ermittlung.
    JUNGER MANN : Sie sagten, Sie hätten eine Methode entwickelt. Mich würde interessieren, worin sie besteht.
    ALTER MANN : Ich will versuchen, sie Ihnen mit einer anderen Geschichte zu erklären, die nicht ganz so weit zurückliegt. Es hatte da einen Mord an einem Jungen gegeben. Ein ganz normaler Junge, der im Geschäft seines Vaters arbeitete und nichts mit kriminellen Kreisen am Hut hatte. Die Leiche wurde auf der Straße unweit seiner Wohnung gefunden. Ein einziger Messerstich ins Herz. Keine Zeugen, kein Motiv, keine Verdächtigen. Achtundvierzig Stunden lang tappten wir im Dunkeln, ehe wir etwas fanden.
    JUNGER MANN : Was?
    ALTER MANN : Am Abend zuvor hatte das Opfer in der Kneipe einen Typen geschlagen. Es ging um ein Mädchen. Er hatte ihn in aller Öffentlichkeit geschlagen und beleidigt, und der andere brüllte im Weggehen, dafür würde er büßen. Das wurde uns im Vertrauen vom Wirt der Kneipe gesteckt, der mit einem unserer Beamten befreundet war. Der Tote war groß und kräftig, er spielte Rugby, wenn ich mich recht erinnere. Der andere hingegen war ein kleines, schmalbrüstiges Kerlchen.
    JUNGER MANN : Habt ihr ihm gesagt, dass ihr ihn verdächtigt?
    ALTER MANN : Nicht sofort. Schließlich hatten wir nichts gegen ihn in der Hand, abgesehen von einem vertraulichen und somit unbrauchbaren Wink und dem sich daraus ergebenden Verdacht. Wir wollten ihn auf die Probe stellen. So läuft das oft. Wir sagten, wir müssten ihm nur ein paar Fragen stellen und er wäre bald wieder zu Hause. Stattdessen ließen wir ihn stundenlang alleine schmoren, ohne dass jemand mit ihm redete. Hin und wieder kam er aus dem Zimmer und fragte den Wachmann, weshalb wir ihn festhielten. Und der Beamte antwortete, er habe keine Ahnung, was übrigens stimmte. Dann betrat einer von uns, also einer der Bereitschaft, das Zimmer und brüllte ihn an, er stecke in der Scheiße und käme hier nicht mehr raus. Ohne ihm eine Erklärung zu geben. Und schließlich ging ich hin und redete mit ihm.
    JUNGER MANN : Und was sagte er?
    ALTER MANN : Natürlich war er sehr nervös, auch wenn er versuchte ruhig und gelassen zu wirken. Also plauderte ich erst ein wenig mit ihm, ohne den Mord zu erwähnen. Als er sich einigermaßen entspannt zu haben schien, bat ich ihn, mir zu erzählen, was in der Kneipe vorgefallen war. Er behauptete, gar nichts sei passiert, er wisse nicht, wovon ich redete. Doch den Streit hatten viele Leute mitbekommen, ihn abzustreiten war also müßig. Es war nicht sonderlich schwer, ihm das klarzumachen. Das war ein erster Schritt. Wir sprachen miteinander, und er hatte etwas Wichtiges zugegeben, auch wenn der Mord noch gar nicht erwähnt worden war. Dieses Bekenntnis war wie ein Fuß in der Tür, wenn Sie verstehen, was ich meine.
    JUNGER MANN : Tue ich.
    ALTER MANN : Als er mir die Ereignisse in der Kneipe geschildert hatte, bat ich ihn, mir ein paar Minuten lang zuzuhören und mich nicht zu unterbrechen. Er sollte nur zuhören. Ich begann damit, ihm zu sagen, dass ich sein Verhalten verstünde und in seiner Situation möglicherweise genauso reagiert hätte. Es gebe Demütigungen, die schwer zu schlucken seien, und manche Reaktionen, so falsch sie auch sein mögen, seien nur menschlich.
    JUNGER MANN : Um das richtig zu verstehen: Sie rechtfertigten seine Reaktion, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen?
    ALTER MANN : Rechtfertigen würde ich nicht sagen. Ich versuchte ihm eine allgemein akzeptable und nachvollziehbare Erklärung für sein Verhalten

Weitere Kostenlose Bücher