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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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anzubieten – nachvollziehbar vor allem für ihn. Dabei hatten wir noch gar nicht konkret über sein Verhalten geredet. Ich versuchte, der Sache einen psychologisch tolerierbaren Rahmen zu geben. Ich versuchte, zwischen ihm als Person und der unglücklichen und tragischen Verkettung von Ereignissen, in die er hineingeraten war, zu unterscheiden – und ihm klarzumachen, dass ich zu einer solchen Unterscheidung in der Lage war.
    JUNGER MANN : Sie klingen eher wie ein Professor als wie ein Polizist. Ist es richtig, wenn ich sage, dass Ihre Methode darin besteht, zuerst eine Beziehung zum Verdächtigen aufzubauen und dann sein Verhalten für ihn zu rechtfertigen und herunterzuspielen?
    ALTER MANN : Ja, so kann man es sagen.
    JUNGER MANN : Fahren Sie fort.
    ALTER MANN : Der dritte Schritt besteht in einer Art Projektion der Verantwortung.
    JUNGER MANN : Was bedeutet das?
    ALTER MANN : Das bedeutet, dass man zumindest einen Teil der Verantwortung auf einen äußeren Faktor projiziert. Das kann das soziale Umfeld sein, die Familie, eine schwierige Situation oder, wie in diesem Fall, eine Provokation durch das Opfer. Ein äußerst heikler Schritt. Die Projektion ist unerlässlich, um den Widerstand des Verdächtigen zu schwächen und ihn zu einem Geständnis zu bewegen, doch ethisch gesehen ist dies der tückischste Moment.
    JUNGER MANN : Weil die Gefahr besteht, das Verbrechen zu rechtfertigen.
    ALTER MANN : Oder den Verdächtigen zu manipulieren. Man muss das Gleichgewicht zwischen der Projektion von Verantwortung und der fraglosen Verwerflichkeit der Tat finden.
    Ich sagte ihm, ich wolle ehrlich mit ihm sein; das, was passiert sei, ließe sich nicht rechtfertigen. Es sei falsch, das wüssten wir beide, doch bestimmt wäre es nicht dazu gekommen, wenn das Opfer ihn nicht provoziert hätte.
    Ein ganz wichtiger Aspekt ist eine möglichst neutrale Ausdrucksweise. Mit anderen Worten: Die Begriffe Mord, Toter, Verbrechen kamen mir nie über die Lippen. Stattdessen sagte ich: Vorfall, Unfall, Zwischenfall. Emotional belastete Begriffe führen dem Befragten die Schwere seines Vergehens vor Augen, steigern die Angst vor den Folgen und verringern die Chance auf ein Geständnis.
    Wörter sind wichtiger, als man sich vorstellen kann. Aber das brauche ich Ihnen bestimmt nicht zu sagen.
    JUNGER MANN : Sartre schrieb einmal: Wörter sind geladene Pistolen.
    ALTER MANN : Ich will nicht kleinlich sein, aber der Satz stammt von Brice Parain. Sartre hat ihn lediglich zitiert, in einem Essay, das, glaube ich, Was ist Literatur? heißt .
    JUNGER MANN : (mit verblüfftem Gesicht und nach langem Zögern) Wer war dieser …
    ALTER MANN : Brice Parain. Ein französischer Philosoph. Ich habe meine Abschlussarbeit an der Uni über ihn geschrieben. Wissen Sie, wie Brice Parain genannt wurde?
    JUNGER MANN : Nein.
    ALTER MANN : Der Sherlock Holmes der Sprache. Ich glaube, deshalb wollte ich meine Abschlussarbeit über ihn schreiben.
    JUNGER MANN : Tja, also wirklich. Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Unterhaltung eine solche Wendung nimmt.
    ALTER MANN : Ehrlich gesagt, ich auch nicht.
    JUNGER MANN : Na schön. Kommen wir zum Thema zurück. Was passiert nach der Projektion?
    ALTER MANN : Es gibt einen vierten Schritt, den finalen. Er besteht darin, ehrliche Anreize für ein Geständnis zu bieten.
    JUNGER MANN : Ehrliche Anreize?
    ALTER MANN : Man darf keine Versprechen machen, die man nicht halten kann. Man darf dem Verdächtigen keinen Nutzen in Aussicht stellen, den er für sein Geständnis nicht auch bekommen kann.
    JUNGER MANN : Und was waren die ehrlichen Anreize in diesem Fall?
    ALTER MANN : Zunächst einmal machte ich ihm klar, dass Provokation einen Strafmilderungsgrund darstellt und dass ein Geständnis, zumal zu diesem Zeitpunkt, ihm zweifellos mildernde Umstände eingeräumt hätte. Überdies könnte er ein abgekürztes Verfahren beantragen – ich erklärte ihm, was das bedeutete – und eine zusätzliche Strafmilderung erlangen. Ich erklärte ihm, dies sei der richtige Moment, mir seine Version der Ereignisse darzulegen, damit wir sämtliche Fakten und mildernden Umstände erfassen könnten, ehe sich die Verfahrensmühlen in Bewegung setzten und es zu spät wäre.
    JUNGER MANN : Hat er gestanden?
    ALTER MANN : Ja. Er gestand – und jetzt sehr viel detaillierter – die Prügelei in der Kneipe. Er schilderte, er sei mit einem Messer hinter dem anderen her, um ihn einzuschüchtern. Der hätte ihm völlig unbeeindruckt ins Gesicht

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