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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Vater war Arbeiter und Gewerkschafter. Es würde ihm das Herz brechen zu hören, dass sein Sohn wegen Raub festgenommen worden war. Zwar sagte er es nicht genau so, aber der Sinn war der gleiche. Ich weiß nicht, warum, doch ich sagte, wenn er wollte, könnte ich mit seinem Vater sprechen.
    JUNGER MANN : Und er?
    ALTER MANN : Er schien ein bisschen erleichtert zu sein, als wäre wenigstens ein Problem gelöst. Genau in dem Moment machte ich eine seltsame Erfahrung. Ich hatte das deutliche Gefühl, eine Rolle zu spielen, und zugleich fühlte ich mich völlig gelöst und authentisch. Ich war gespalten und eins zugleich. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine.
    JUNGER MANN : Ich glaube, ich weiß, wovon Sie reden. Wenn man schreibt, ist es manchmal ähnlich. In glücklichen Momenten, wenn man merkt, dass die Worte ihren rechten Platz finden und Wahrheit und Fiktion verschmelzen.
    Die beiden sitzen ein paar Minuten schweigend da. Versunken. Dann fährt der alte Mann aus seinen Gedanken hoch.
    ALTER MANN : Dann sagte ich, ich nähme an, sie hätten ihn da mit reingezogen.
    JUNGER MANN : Was meinten Sie damit?
    ALTER MANN : Dass seine Komplizen ihm diese Scherereien eingebrockt hatten. Ich sagte es, ohne genau zu wissen, worauf ich eigentlich hinauswollte. Nachdem er ein paar Sekunden geschwiegen hatte, knurrte er so was wie »diese Arschlöcher« und fragte mich, ob wir unter vier Augen reden könnten.
    Mein Herz begann zu rasen, ich sagte, das könnten wir, und schickte den Wachmann hinaus. Der glotzte mich ungläubig an. Es war ein alter Beamter, der aussah, als hätte er schon alles gesehen. Theoretisch war ich sein Vorgesetzter, doch sein Gesichtsausdruck verriet, dass ich für ihn nur ein beschissener Anfänger war. Er war drauf und dran etwas zu sagen, doch dann verzog er nur den Mund und verließ das Zimmer.
    Als wir alleine waren, erklärte ich dem Jungen, dass wir manchmal, ohne es zu merken, Dummheiten und Fehler machen. Man müsse vermeiden, dass diese Fehler irgendwann nicht wieder auszubügeln seien. Wenn er mir etwas sagen wolle, solle er es jetzt tun, um den Preis für seinen Fehler möglichst gering zu halten und auch nach dieser Dummheit eine Perspektive zu haben. Sonst könnte es zu spät sein. Ich redete von allgemeinen mildernden Umständen, von Hausarrest, von Dingen, die mir bisher nur während meiner Ausbildung untergekommen waren.
    JUNGER MANN : Und der Junge?
    ALTER MANN : Er erzählte mir alles. Er nannte die Namen der anderen und schilderte mir, wie er sich in die Sache hatte hineinziehen lassen. Jeden Morgen trafen sie sich in der Bar des Viertels, wo alle drei wohnten. Die beiden hatten ständig Geld in der Tasche, er aber hatte nie eine Lira. An dem Tag schlugen sie ihm vor, sie zu begleiten und ein kleines, harmloses Ding zu drehen. Er meinte, er wisse nicht, ob er das könne, doch die beiden sagten, da müsse man nichts können. Er müsse nur vor dem Juwelier auf sie warten und die Augen offen halten. In fünf Minuten sei alles gelaufen.
    JUNGER MANN : Haben Sie die anderen beiden geschnappt?
    ALTER MANN : Wir hatten sie innerhalb einer Stunde: Es war die erste Festnahme meiner Berufskarriere. Sie waren wegen Raub und Drogen vorbestraft, aber sie gestanden ziemlich schnell. Erst vor uns und dann vor dem Staatsanwalt und den Anwälten.
    JUNGER MANN : Und was haben Ihre Vorgesetzten gesagt?
    ALTER MANN : Ich weiß nicht mehr genau, was der Leiter der Bereitschaft sagte, aber mein Lebtag werde ich sein Gesicht nicht vergessen, als ich zu ihm ins Büro kam und ihm mitteilte, dass der Junge geredet hatte. Jedenfalls kriegten wir alle ein großes Lob, wie großartig wir den Fall gelöst hatten.
    JUNGER MANN : Wir ?
    ALTER MANN : Genau. So ist das bei der Polizei. Wenn was gut läuft, dann ist es immer das Verdienst der Gruppe. Wenn was schiefgeht, ist es die Schuld des Einzelnen. Wie auch immer, nach dieser Erfahrung habe ich oft darüber nachgedacht, was ich getan hatte und wie ich es getan hatte. Ich habe Bücher und Artikel gelesen und mir polizeiliche Unterlagen und Ermittlungsprotokolle aus anderen Ländern besorgt. Und ich glaube, ich habe eine Methode entwickelt und meinen Beruf gelernt, im Bemühen, zu verstehen, was an jenem Abend geschehen ist.
    JUNGER MANN : Der Junge hatte geredet, weil Sie ihn respektvoll behandelt haben.
    ALTER MANN : Ja, ich glaube, das ist der Kern.
    JUNGER MANN : Was braucht es, um ein guter Polizist zu sein?
    ALTER MANN : Gute Frage. In einem Roman las

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