Illusion der Weisheit
können. Und es passiert auch, dass wegen Prügeln Leute angeklagt und zum Teil sogar verurteilt werden, die rein gar nichts mit der Sache zu tun haben.
JUNGER MANN : Unvorstellbar. Können Sie mir ein paar Beispiele nennen?
ALTER MANN : Es gibt da einen sehr bekannten Fall. Erinnern Sie sich an die Geschichte des weißen Unos?
JUNGER MANN : Selbstverständlich.
ALTER MANN : Als die Bandenmitglieder verhaftet wurden und gestanden, kam heraus, dass sie auch für eine Reihe von Raubüberfällen verantwortlich waren, für die sie gar nicht verdächtigt wurden. Darunter auch einer, für den man bereits andere verurteilt hatte.
JUNGER MANN : Und hatten diese Leute gestanden?
ALTER MANN : Ja, einer von ihnen. Und, wie gesagt, er hatte nichts damit zu tun. Ich traue nie einem Geständnis, bei dem ich nicht selbst zugegen war. Und, um ehrlich zu sein, ich traue noch nicht einmal denen, bei denen ich zugegen war, wenn ich nicht genau weiß, was vorher gelaufen ist.
JUNGER MANN : Wie ist die Geschichte mit dem Räuber ausgegangen?
ALTER MANN : Die schlugen ihn, und ich stand da und wusste nicht, was ich machen sollte. Mal dachte ich, dass ich ihm auch eine runterhauen sollte, um nicht wie der Grünschnabel dazustehen, der sich ins Hemd macht. Dann dachte ich wieder, dass ich den Mut aufbringen müsste, ihnen zu sagen, dass sie aufhören sollten. Doch davon konnte natürlich keine Rede sein. Ich war am kürzesten mit dabei, wenn ich den Mund aufgemacht hätte, hätten die mich mit Fußtritten davongejagt, und meine Ermittlerkarriere wäre zu Ende gewesen, noch ehe sie begonnen hatte.
JUNGER MANN : Wie lange dauerte das?
ALTER MANN : Eine Ewigkeit, und am Ende war klar, dass nichts zu machen war, der hätte nicht geredet. Er war zwar noch sehr jung, aber er hatte Biss oder einen guten Grund, den Mund zu halten, oder beides. Aber irgendwann hörte die Prügelei auf, und das Verhaftungsprotokoll und die anderen Unterlagen mussten ausgefertigt werden, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Wir verließen den Raum, der eine holte sich einen Kaffee, der andere ging nach Hause, und noch jemand anders setzte sich an die Schreibmaschine und tippte das Verhaftungsprotokoll. Ich strich durch die Flure und wusste nicht, was ich tun sollte. Irgendwann kehrte ich ohne ersichtlichen Grund in das Zimmer zurück, wo der Typ noch immer in Handschellen auf dem Stuhl hockte, das Gesicht übel zugerichtet, das Kinn auf der Brust. Ich setzte mich neben ihn und fragte ihn, ob die Handschellen ihn schmerzten. Der Junge – ich sehe ihn noch genau vor mir – hob langsam den Kopf, als hätte er nicht richtig gehört. Ich fragte ihn noch einmal, ob die Handschellen ihn schmerzten, und er antwortete Ja. Ich sagte ihm, wenn er mir verspreche, keine Dummheiten zu machen, würde ich ihm die Handschellen abnehmen. Er antwortete: »Ich verspreche es.« Es machte einen seltsamen Eindruck auf mich. Er sagte es mit einer linkischen Würde, wie ein Kind, das erwachsen wirken will.
JUNGER MANN : Und dann?
ALTER MANN : Dann ließ ich mir von dem Beamten, der ihn bewachte, die Handschellenschlüssel geben und befreite ihn. Ich fragte ihn, ob er eine Zigarette möchte, und er sagte Ja, gern. Doch vorher hätte er gern ein bisschen Wasser, wenn das möglich sei. Ich brachte ihm Wasser, gab ihm die Zigarette, zündete mir ebenfalls eine an, und wir rauchten gemeinsam. Schweigend. Ich war ohne jede Absicht zu ihm gekommen, doch während wir da saßen und rauchten, kam mir die absurde Idee, dass er mir vielleicht das sagen würde, was die Schläge nicht aus ihm herausgebracht hatten.
JUNGER MANN : Und hat der Junge was gesagt?
ALTER MANN : Als er aufgeraucht hatte, fragte er mich, was er riskiere. Er meinte: welche Strafe. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung. Ich war erst seit wenigen Tagen Polizist, hatte noch nie einen Prozess gesehen und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie viel er für einen versuchten Raub bekommen würde. Doch ich konnte nicht einfach schweigen, also antwortete ich mit ernster Stimme, dass er einiges riskiere. Ich hatte keine Ahnung, wovon ich redete, doch der Junge merkte es nicht. Für ihn war ich ein Polizist wie die anderen, nur dass ich ihn nicht geschlagen hatte.
JUNGER MANN : Sie sind ein guter Erzähler.
ALTER MANN : Die Arbeit eines Ermittlers ist voller Geschichten. Jedenfalls knetete er sich schweigend die Hände und murmelte schließlich, das Schlimmste für ihn sei, dass sein Vater es erfahren würde. Sein
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