Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
einzelner Häuser genauestens vorgeschrieben. Mit 100 fahrplanmäßigen und 40 Sonderzügen, zuzüglich der über 600 Busse und Lastwagen, werden 150.000 Menschen in die Stadt gekarrt. Musikkapellen in Tiroler Trachten marschieren durch die Straßen, Kampflieder sind zu hören. Um 18 Uhr endlich ertönen alle Kirchturmglocken, verkünden die Ankunft des Führers mit seinem Tross, auch SS -Reichsführer Heinrich Himmler ist dabei.
Hitler begibt sich ins Landhaus, wird feierlich empfangen, danach erfolgt ein Triumphzug durch die Straßen. Es ist bereits dunkel, wodurch hunderte von Bergfeuern und die unzähligen glühenden Hakenkreuze auf der Nordkette besonders gut zur Geltung kommen. Freilich, sie sind noch nichts im Vergleich zum eineinhalb Kilometer langen und gut 100 Meter hohen Schriftzug Ein Volk Ein Reich Ein Führer , der da von der Nordkette flammt.
Die Wahl hätte auch ohne dieses Spektakel zum grandiosen Anschluss-Ja geführt, wer lehnt sich auf, wenn er mit ansehen musste, wie Regime-Gegner schon in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 verdroschen wurden. Alleine das Wissen um die Existenz der Gestapo lässt zu Boden schauen, wenn auf Augenhöhe ein Übergriff stattfindet. Daher ändert sich in Innsbruck zunächst nicht viel, darüber sind sich die Häuser einig. Die Mehrheit der mittleren und kleineren Beamtinnen und Beamten bleiben in Amt und Würden, auch zwei Drittel der Abteilungsleiter verlieren ihre Arbeit nicht, noch 1940 nehmen mehr als die Hälfte der Beamten des Austrofaschismus ihre Positionen ein.
Die Schulen in der Innallee und in der Innstraße 36 erheben Einspruch: Sofort machen sich die Veränderungen bemerkbar, erzählen sie, das konfessionelle Schulsystem wird zerschlagen. Den Unterrichtsbeginn markieren der deutsche Gruß, das Absingen eines NS -Liedes und ein Sinnspruch: „Nur wer gehorchen gelernt hat, kann später auch befehlen.“ Deshalb wird auch das Lehrpersonal einer Schulung unterzogen, es wird zum Heer des Führers, statt einer Waffe eine Kreide in der Hand.
Am 10. Mai ist Hitler auf Durchreise, die Schulchronik berichtet:
„Die Kinder, die ihn am 5. 4. wegen der Dunkelheit auf der Straße nicht sehen konnten, erwarteten in der Nähe des Greisenasyls den Zug. Es hieß wohl, er müsse Ruhe haben, er schlafe und die Vorhänge seines Wagens seien zugezogen. Deshalb standen die Kinder schweigend und mäuschenstill auf der sonnigen Wiese. Aber als der Zug langsam vorbeifuhr, da deuteten einige Herren mit der Hand nach dem folgenden Wagen. Und – da stand wirklich der Führer am geöffneten Fenster, lachte und hob die Hand zum Gruß. Man kann sich denken, welcher Jubel da losbrach! Den Tag werden wir alle nie vergessen. Gott schütze und segne unseren Führer!“
Lehrer wie Schüler genießen zu Beginn des Schuljahres 1939/40 verlängerte Ferien, Göring hat’s befohlen, die Luftgefahr aufgrund des Krieges gegen Polen sei auch in der Ostmark groß. Bald aber können die Lehrer in der Innallee 3 ihre Schüler wieder ermahnen, wenn sie aus den Klassenzimmern über den Inn hinweg scheu zum Haus in der Herrengasse 1 blicken, wo sich das Gebäude der Gestapo befindet. Welche Grausamkeiten dort an Menschen verbrochen werden, steht nicht im Stundenplan, spätere Akten lassen erahnen, mit welcher Brutalität die Nazischergen vorgingen:
„Im Gestapogebäude wurde ich in ein Zimmer hineingeführt, und während mir noch die Tür aufgemacht wurde, bekam ich mit der Faust einen Schlag ins Gesicht, sodaß ich in das Zimmer hineintaumelte. In diesem Raum lag auf einem Feldbett gefesselt Fred Mayr, der vorher bereits mißhandelt worden war, denn ich habe gesehen, daß er am Körper fingerdicke Striemen hatte, blutete und im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit geschwollen war.“ Das bezeugt Raimund Salchner aus Innsbruck im Jahr 1947 vor dem Landesgericht betreffs der Gefangenenmisshandlungen durch die Gestapo. Salchner war im April 1945 in die Herrengasse eingeliefert worden.
Von der Innsbrucker Gestapo sind ungefähr 40 Männer zu Ermittlungen, Verhaftungen und Verhören bestimmt, der Rest der etwa hundertköpfigen Seilschaft setzt sich aus Fahrern, Dolmetschern, Schreibkräften und Telefonistinnen zusammen. Strukturell ein Spiegelbild des Geheimen Staatpolizeiamts Gestapa in Berlin, gliedert sich auch die Innsbrucker Zentrale in diverse Referate und Unterreferate, wobei dem N-Referat wie bei jeder Gestapo-Stelle besondere Bedeutung zukommt. Dort werden die V-Leute und
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