Im Alphabet der Häuser: Roman einer Stadt (German Edition)
ungemein. Schließlich bessert sich auch die Lage allmählich, die 4. marokkanische Gebirgsdivision wird durch die 27. abgelöst, nun sind zumindest weiße, nationalfranzösische Truppen auf den Straßen zu sehen. Und als der französische Oberbefehlshaber Emile Marie Béthouart durch eine Kranzniederlegung am Bergisel den Volkshelden Andreas Hofer ehrt, sichert ihm das den Respekt des ganzen Landes.
Auf geht’s, rufen die Häuser, Tirol darf nicht umfahren und dadurch benachteiligt werden. Das Motto „Verkehr ist Leben“ bestimmt die Nachkriegsjahrzehnte. Durch die wirtschaftliche Konjunktur der 50er-Jahre entwickelt sich Innsbruck zur Tourismusmetropole, die mit ihrer in ein herrliches Bergpanorama eingebetteten Lage jährlich abertausende Urlauber zu überzeugen weiß, so steht’s in den Fremdenführern.
Noch in den 60er-Jahren stammen fast 80 Prozent der „Gäste“ aus dem italienischen Raum, in den nachfolgenden Jahrzehnten werden sie zunehmend von solchen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei ersetzt. Ohne diesen Trend würde besagter Makler unseren Stadtteil wohl Klein-Catania genannt haben.
1955 sind die Franzosen weg aus der Stadt, auch Österreich ist frei, der zwanglose Umgang mit der Vergangenheit setzt früher ein, seit neun Jahren regiert in Tirol die Volkspartei, der Bauernbund ist die bestimmende Kraft.
Selbstgefällig lächelt von Plakatwänden bald ein Mann, der die letzten Kriegsmonate als Funker gedient hat, er sendet Signale aus, die ein Volk sich wünscht, verkörpert eine starke Führung. Und beansprucht sie bis 1987 für sich alleine, den Blick stets in die Zukunft gerichtet, um die eigene Geschichte zu kaschieren.
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Im Jahr 1946, erzählt das Haus, in dem sich heute die Trafik befindet, sind die Schuttmassen auf den Straßen größtenteils beseitigt; auch die bis vor kurzem noch unpassierbaren Altstadtlauben lassen sich wieder betreten, ganze Haushalte ineinander verkeilt standen in den Gewölben menschenhoch. Die Häuser von Granatsplittern gemasert, die Fenster zerschlagen, vorm Katzung nur Geröll aus Schotter, Stahl, Zargen, das Winkler-Haus völlig ausgebombt. Die südliche Maria-Theresien-Straße war nach dem ersten Bombardement ein Trümmerfeld, schräg gegenüber der Servitenkirche eine Ruine, sie ragte bis zum zweiten Stock des Nebengebäudes hoch, das Dach des Servitenklosters krümmte sich in die Straße herein.
Auch das Schulhaus in der Innallee kann von ersten Fliegerstaffeln über Innsbruck berichten, eine Bombe reißt die Nordostfront des Gebäudes von oben bis unten auf, das Haus, in dem du Zigaretten kaufst, ist nicht wiederzuerkennen.
Viele Menschen sitzen bei diesem Angriff gerade beim Mittagstisch, vielleicht schauen sie auf vom Suppenteller und hinaus zum Fenster, er ist ein herrlicher Wintertag, dieser 15. Dezember 1943, der Himmel strahlend blau, auf der Nordkette Schnee, ein klassisches Postkartenmotiv. Kurz vor ein Uhr mittags die Meldung – Bomberverband über den Alpen. Und alles geht rasend schnell dann, eben noch hörte man das Röhren der Maschinen – plötzlich Detonationen. Chaos in der Stadt; Feuersäulen, Sprengwolken wachsen wie Pilze und breiten sich über den Stadtteil Wilten und das Zentrum aus. Verzweifelte Menschen, sie rennen aus den Häusern in Schutzräume, stürzen in die Keller, die nicht wirklich Deckung bieten. Solche gibt es nur in den Stollen, die man in die Abhänge bei Hötting, Mühlau, Arzl und Wilten gegraben hat – teilweise aber erst nach dem 15. Dezember 1943. Die Aufräumungsarbeiten beginnen, Knopfanhänger aus Papier mit aufgedruckten Durchhalteparolen werden verteilt – „Nun erst recht“ und „Kapitulieren niemals!“ Was muss in den Häftlingen aus dem KZ Reichenau vorgehen, als sie diese Aufschriften lesen, während sie den Schutt von den Straßen räumen? Am 19. Dezember folgt der nächste Angriff.
Das KZ Reichenau?
Es wird offiziell Anfang 1942 eröffnet. Die Inhaftierten werden im öffentlichen Bereich eingesetzt, bei der Kiesgewinnung, ferner zum Schneeräumen und Ähnlichem. Als sich die Bombenangriffe auf Innsbruck mehren, kommen sie bei Bergearbeiten zum Einsatz, auch bei der Beseitigung von Blindgängern. Wie man mit ihnen im Lager umgeht, lässt ein ehemaliger Insasse wissen:
„Wenn ich heute zurückdenke, dann muss ich sagen, dass Reichenau wohl jenes Lager war, wo am meisten geschlagen wurde.“
Das berichtet Josef Passler, im Juni 1943 wegen Wehrdienstverweigerung ins Lager
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