Im Angesicht der Schuld
ihrer Reise hat sie noch Scherze gemacht und gemeint, im Notfall könnten wir es mit Telepathie versuchen. Und dann hat sie mich plötzlich ganz ernst angesehen und gesagt: Aber es wird keinen Notfall mehr geben, Helen. Dir wird es gut ergehen, da bin ich mir ganz sicher. «
Claudia sah mich traurig an und fuhr dann fort, die Umschläge zu beschriften. Als sie damit fertig war, beantwortete sie für mich sämtliche der auf dem Anrufbeantworter aufgelaufenen Anrufe. Bis auf einen –den von Franka Thelen, die dem Band ihr Beileid und die Bitte anvertraut hatte, sie zurückzurufen.
» Weißt du, was sie von mir will? «, fragte ich Claudia.
» Nein, aber ich kann es mir denken. Vielleicht möchte sie dir sagen, dass auch sie nicht an einen Suizid glaubt. «
Mein erster Gedanke bei diesen Worten war: Also haben sich die beiden im Büro darüber unterhalten. Den zweiten sprach ich laut aus. » Man muss einen Menschen gut kennen, um einen solchen Glauben rechtfertigen zu können. «
Sie stützte ihren Kopf in die Hände und sah mich lange an, bevor sie antwortete. » In Extremsituationen lernen Menschen einander im Zeitraffer kennen. Da sind ihre Seelen entblößt und die Masken fallen, ob sie es wollen oder nicht. Von einer Sekunde auf die andere sind sic h b is dahin völlig fremde Menschen nah. Weil sie ein Erlebnis teilen, das sie zutiefst erschüttert hat. Das verbindet Vielleicht ist es Franka und Gregor auch so ergangen. Sprich mit ihr … das hilft dir mögl i cherweise, ein paar Fragezeichen aus dem Weg zu räumen. «
Einmal mehr wurde mir bewusst, was ich an Claudia so schätzte: Sie machte weder sich selbst noch anderen etwas vor. Sie verklärte nichts, hielt mit nichts hinterm Berg und nahm keine falsche Rücksicht. » Ich werde sie zurückrufen, sobald ich mich ein bisschen stabiler fühle. Im Augenblick brauche ich all meine Kraft, um über Gregors Tod nicht verrückt zu werden. «
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, verkroch ich mich wie so oft in den vergangenen Tagen in die Ecke des Sofas und starrte Gregors Foto an. Irgendwann verschwamm sein Bild vor meinen Augen, und mir fielen die Lider herunter.
Kurz nach Mitternacht ließ ein Traum mich abrupt wieder aufwachen und machte meine Hoffnung auf einen etwas länger währenden, betäubenden Schlaf zunichte. Die Bilder des Traumes wiederholten sich vor meinem inneren Auge: Ich stand auf dem Balkon von Gregors Kanzlei. In dem Moment, als ich entdeckte, dass die schützende Umrandung fehlte, stürzte ich auch schon in die Tiefe. Ich betete darum, das Bewusstsein zu verlieren, bevor mein Körper aufschlug. Aber anstatt zu schwinden, wurde es nur immer klarer. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich die Schwerkraft und den Windzug. Gleichze i tig arbeitete mein Gehirn auf der Suche nach einem Ausweg auf Hochtouren. Während ich den Boden immer näher kommen sah, breitete ich meine Arme aus –wie ein Vogel seine Flügel –und bremste meinen Sturz so weit ab, das s i ch mir bei der Landung auf dem Boden lediglich ein paar Prellungen zuzog.
Seltsamerweise hatte ich beim Aufwachen weder Angst noch Entsetzen gespürt. Eher eine Art willkommener Ruhe. Ich ging in Janas Zimmer und setzte mich in den Schaukelstuhl. Weni g stens sie schlief tief und fest. Ich lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen und wanderte zurück in die Vergangenheit.
Vier Wochen nach seiner missglückten Trauung rief dein Vater mich an Jana. Er wollte sich mit mir zum Essen verabreden. Wie er mir später gestand, hatte er vorgehabt, an diesem Abend mit mir über seine Gefühle zu sprechen. Er hatte sich alle Worte zurechtgelegt und alles genauestens geplant.
Er hatte mit allem gerechnet, natürlich auch damit, dass ich mit ein oder zwei abweisenden Sätzen all seine Hoffnungen zunichte machen würde. Aber dann würde er zumindest wissen, woran er war. Das Einzige, womit er nicht gerechnet hatte, war, dass ich zu unserer Verabredung eine Freundin mitbringen würde.
Ich hatte eine ganz simple Überlegung angestellt: Seit der Szene auf dem Standesamt war Gregor höchstwahrscheinlich wieder Single. Zur selben Spezies zählte seit über einem Jahr meine Freundin Fee. Was lag da näher, als den Versuch zu unternehmen, die beiden zusammenzubringen? Während ich Pasta mit roten Linsen aß, pries ich beiden die Vorzüge des anderen. Nicht etwa in den höchsten Tönen, sondern, wie ich glaubte, auf sehr subtile Weise. Doch hatte ich mich in meiner Selbsteinschätzung völlig
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