Im Angesicht der Schuld
sehr Leid. «
» Sie können nichts dafür «, entgegnete ich fast automatisch.
Ihr Blick war aufmerksam und verhalten zugleich. Falls sie sich für unser Gespräch Worte zurechtgelegt hatte, so waren sie ihr verloren gegangen. » Es ist schwerer, als ich es mir vorg e stellt habe «, sagte sie. » Durch Gregors Erzählungen waren Sie mir sehr vertraut, doch jetzt … es ist, als säße ich einer Fremden gegenüber. Entschuldigen Sie, wenn ich das so unverblümt ausdrücke. «
» Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Was Sie sagen, entspricht der Realität –meiner noch viel mehr als Ihrer. « Ich konnte spüren, dass sie etwas von mir erwartete, ich hätte jedoch nicht sagen können, was. Oder erwartete sie nur, dass ich ihr eine Brücke baute? Ich sah sie abwartend an.
» Weshalb ich gekommen bin … nun … « Sie setzte sich au f recht hin und atmete tief ein. » Von der Polizei weiß ich, dass die Frage offen ist, ob Gregor sich selbst das Leben genommen hat oder ob er getötet wurde. Es ist mir sehr wichtig, Ihnen zu sagen, dass ich einen Suizid für ausgeschlossen halte. «
» Warum ist Ihnen das wichtig? «
Mit dieser Frage hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. Ihrem überraschten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ich sie aus dem Konzept gebracht. Sie zögerte mit ihrer Antwort. » Nach dem Tod Ihres Mannes habe ich viel über Sie nachgedacht. Es ist mir bewusst geworden, dass Sie durch seinen Tod auch von dem Unfall und … « Sie räusperte sich. » Es war mir klar, dass Sie von dem Unfall erfahren würden. Und ich habe mich gefragt, ob Sie aus der Tatsache, dass er ihn Ihnen verschwiegen hat, den falschen Schluss ziehen würden. «
» Sie meinen den Schluss, dass er mir dann sicher auch seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verschwiegen hätte. Dieser Schluss wäre gar nicht so falsch, Frau Thelen. Denn ich bin sicher, er hätte es mir verschwiegen, um mich zu schonen. Aber mir geht es wie Ihnen: Auch ich weigere mich, an einen Suizid zu glauben. Für einen solchen Schritt hat Gregor das Leben zu sehr bejaht und geliebt. Er hatte eine innere Stärke, die mir immer unverbrüchlich erschien. Aber wer weiß, vielleicht ist ihm etwas widerfahren, von dem wir beide nichts wissen, etwas, das diese Stärke ins Wanken gebracht hat. «
» Aber dann hätte er wenigstens mir … « Ihr war anzusehen, dass sie etwas dafür gegeben hätte, diese Worte nicht ausg e sprochen zu haben. Sie sah betroffen zu Boden.
Später wünschte auch ich mir, meinen Mund gehalten zu haben. In diesem Moment jedoch war es mir nicht möglich. » Sie meinen, weil Sie stärker sind als ich, weil Sie nicht krank waren und Gregor annehmen konnte, dass Belastungen Sie nicht gleich umhauen würden? «
Beim sarkastischen Ton meiner Stimme blickte Jana unsicher von ihrem Puzzle auf und steckte den Daumen in den Mund, um gleich darauf auf meinen Schoß zu klettern und sich anzuk u scheln.
» Verzeihen Sie mir «, murmelte Franka Thelen, griff nach ihrer Tasche und eilte wie von Furien gehetzt aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen.
» Das war alles andere als fair «, gestand ich Annette, als wir beim Abendessen saßen.
Sie hatte ein Pilzrisotto gemacht und wachte mit Argusaugen darüber, dass ich mir zumindest hin und wieder eine Gabel davon in den Mund schob. Ich fand es rührend, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte. Obwohl ihr das Kochen überhaupt keinen Spaß machte, hatte sie mein Lieblingsgericht zubereitet. Um sie nicht zu verletzen, verschwieg ich ihr, dass mit Gregors Tod auch meine Geschmacksnerven gestorben zu sein schienen, von meinem Appetit ganz zu schweigen.
Ich hatte ihr von meinem Gespräch mit Franka Thelen erzählt und von meinem Benehmen, für das ich mich im Nachhinein schämte.
» Wer verlangt denn Fairness von dir? «, hielt sie mir entgegen. » Du hast alles Recht der Welt, auf diese Frau sauer zu sein. Immerhin … «
» Stopp mal, Annette. Gregor hatte kein Verhältnis mit ihr, die beiden haben lediglich eine sehr schlimme Erfahrung geteilt. «
» Woher willst du wissen, was die beiden geteilt haben, Helen? Sei nicht naiv. «
» Ich bin nicht naiv, ich bin aber auch keine Anhängerin der These, dass alle Männer gleich sind und ohnehin über kurz oder lang fremdgehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Männer gibt, die das nicht tun, genauso wie es Frauen gibt, die nicht fremdgehen. «
Annettes Miene gefror. Sie starrte mich an, als
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