Im Angesicht der Schuld
Man n w äre, würde ich ihm diese Affären nicht durchgehen lassen. Aber heißt es nicht, dass Genies mit anderen Maßstäben zu messen sind? « Ihr Lachen missglückte.
Es lag mir auf der Zunge zu sagen, dass Genialität kein Fre i brief für Untreue sei. Außerdem bezweifelte ich, dass Joost tatsächlich genial war. In meinen Augen war er ein Getriebener, ein vielseitig talentierter Querdenker mit einem gut verborg e nen, aber dennoch vorhandenen Mangel an Selbstbewusstsein. Um eben jenen Mangel auszugleichen, tanzte er gleich auf mehreren Hochzeiten. Er war Facharzt für Labormedizin und Mikrobiologie, hatte mit großem Erfolg ein Institut für Huma n genetik aufgebaut, besaß an der Universität einen Lehrstuhl, schrieb regelmäßig Fachbücher und war zusätzlich vereidigter Sachverständiger für Abstammungsgut achten. Jede dieser Tätigkeiten führte mit ebenso viel Ehrgeiz wie Engagement aus. Die wenige Zeit, die ihm zwischen Arbeit, Annette und Freu n deskreis blieb, füllte er mit Frauen, die seinem Selbstwertgefühl schmeichelten, es jedoch nicht zu stärken vermochten.
Auch wenn mir all das bewusst war, mochte ich Joost. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen, konnte äußerst liebevoll sein, übermütig und humorvoll. An manchen Tagen sprühte er nur so vor Ideen. Und er war Gregor ein guter Freund.
» Helen? « Annette legte ihre Hand auf meine. » Ist alles in Ordnung mit dir? «
» Keine Sorge! Ich war nur für einen Moment woanders. «
» Wenigstens gehst du nur in Gedanken auf Wanderschaft «, sagte sie, während sie aufmerksam etwas beobachtete, das sich hinter uns abspielte.
Neugierig drehte ich mich um. Vor dem Restaurant stand Joost und redete mit einer Frau. Beide schienen sehr aufgebracht zu sein. Da ich noch nie eines von seinen Verhältnissen zu Gesicht bekommen hatte, musterte ich sie eingehend. Sie war schä t zungsweise Mitte dreißig und hätte vom Aussehen her Joosts jüngere Schwester sein können. Beide waren sie sehr groß, hatten gewellte blonde Haare und zählten eher zum sportlichen Typ.
Wild gestikulierend ließ sie ihren ausgestreckten Zeigefinger mehr als einmal mitten auf seiner Brust landen. Ich musste ihre Worte nicht hören, um zu wissen, dass sie wütend war und ihm heftige Vorwürfe machte. Wahrscheinlich hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, nicht länger hinter Annette zurückzustehen. Die Szene war so eindeutig, dass ich wünschte, Annette hätte sie nicht mitbekommen.
» Gregor, könntest du dem da draußen ein Ende setzen? «, fragte sie angespannt. » Bitte. «
Mein Mann stand zögernd auf. Ich konnte mir gut vorstellen, was in ihm vorging. Er war hin-und hergerissen zwischen dem Wunsch, Annette beizustehen, und seiner Überzeugung, dass der Streit dort draußen ausschließlich Joost, Annette und diese Frau betraf und es nicht seine Aufgabe war, sich einzumischen.
Als er hinausgegangen war, geriet ich kurz in Versuchung, ihr zu sagen, sie solle nicht länger hinschauen. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass ihr Wegschauen nicht helfen würde.
» Jetzt hat sie Gregor aufs Korn genommen «, sagte Annette. Ihr Blick war starr auf das Fenster hinter mir gerichtet. » Und Joost versucht, Gregor hinter sich herzu ziehen. Warum lässt dein Mann sie nicht einfach stehen? « Ihr Ton war gereizt. » Wieso redet er mit ihr? Er sollte nur Joost mit hereinbringen … mehr nicht. Müssen Männer denn immer zusammenhalten? «
» Werd bitte nicht ungerecht, Annette. Gregor ist auf deinen Wunsch hin da draußen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich um diesen Auftrag gerissen hat. «
» Aber muss er dabei …? «
» Gregor ist erwachsen! «
» So erwachsen, dass er sich von ihr einlullen lässt «, erwiderte sie böse. » Jetzt gibt er ihr sogar noch seine Karte. «
Ich drehte mich um und sah die Frau einen Blick auf die Karte werfen, bevor sie sie einsteckte.
» Vielleicht beabsichtigt er ja, in Joosts Fußstapfen … «
Mein Blick brachte sie für einen Moment zum Verstummen. » Kannst du mir sagen, warum du dir das nach all den Jahren immer noch bieten lässt? Wie faszinierend muss ein Mensch sein, um solche Verletzungen aufzuwiegen? «
» Das wirst du nie verstehen. «
» Manchmal frage ich mich, ob du es selbst verstehst. «
» Für andere ist nicht immer einleuchtend, was man tut und wie man fühlt. Das müsstest du eigentlich am besten verstehen, Helen. « Sie hatte ganz bewusst unter die Gürtellinie gezielt.
Mein Impuls, aufzustehen und zu gehen,
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