Im Angesicht der Schuld
bitte! «
Wäre es um weniger gegangen als um Gregors Tod, hätte ich in diesem Augenblick aufgegeben. » Sie haben etwas, das ich vielleicht nie haben werde, Frau Elverts, nämlich Gewissheit. Sie wissen, was vor dreizehn Monaten geschehen ist. Ich weiß nicht, was oder wer vor elf Tagen dazu beigetragen hat, dass mein Mann in die Tiefe gestürzt ist. Diese Ungewissheit macht mich krank. «
» Überschätzen Sie die Gewissheit nicht. Auch sie kann einen krank machen. Gehen Sie jetzt bitte. Ich habe zu arbeiten. « Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür. Ihre sich entferne n den Schritte hatten etwas Endgültiges.
Jana hielt ihren Mittagsschlaf. Irgendwann musste ich wieder anfangen zu arbeiten, warum also nicht jetzt. Halbherzig griff ich zur Lupe und betrachtete die Details des kleinen Aquarells, das auf einer Staffelei neben meinem Schreibtisch stand. Es hatte jedoch nicht die Kraft, meine Konzentration zu bündeln. Meine Gedanken schweiften so nachdrücklich ab, dass ich schließlich aufgab und mich mit einem Seufzer in meinen Schreibtischstuhl sinken ließ. Warum hatte Gregor kein Sakko getragen? War mir in der letzten Zeit etwas entgangen? Hatte er Mandanten gegenüber nicht mehr so akribisch auf seine Kle i dung geachtet? Gregor hatte den Unfall vor mir verbergen können, warum nicht auch geänderte Prinzipien?
Ich wählte die Nummer der Kanzlei und bekam Ruth Lorberg an den Apparat.
» Die Frage mag Ihnen merkwürdig vorkommen, Frau Lorberg, aber wie hielt mein Mann es in letzter Zeit mit seiner Kle i dung? «
Wenn sie verwundert war, so ließ sie es sich nicht anmerken. » Unverändert korrekt «, antwortete sie spontan.
» Gab es Ausnahmen? «
» Mir ist keine bekannt. Er trug stets einen Anzug oder eine Kombination. «
» Und bei welchen Gelegenheiten zog er Krawatte und Jackett oder Sakko aus? «
» Nur wenn kein Mandant mehr zu erwarten war. «
» Sonst nie? «
» Wenn Professor Kogler Ihren Mann besuchte, dann machte er es sich natürlich auch schon mal etwas bequemer. Aber das war ja ohnehin meist zu einem Zeitpunkt, da keine Termine mehr anstanden. Frau Gaspary, worum geht es bei diesen Fragen eigentlich? Der Beamte von der Kripo hat mir heute fast die gleichen gestellt. «
» Es geht immer noch darum, ob mein Mann sich selbst das Leben genommen hat oder ob es ihm genommen wurde. Aus der Tatsache, dass er weder Sakko noch Krawatte trug, lässt sich schließen, dass kein Mandant bei ihm war. «
» Dann hoffe ich nur, dass Sie das nicht falsch bewerten, was ich über Professor Kogler gesagt habe. Ich hab e i hn nur stellve r tretend für private Gespräche in der Kanzlei genannt. Es könnte sich dabei ja auch genauso gut um … « Ihr Satz endete in einem Hustenanfall.
» Um wen könnte es sich handeln? «, fragte ich, als sich ihre Bronchien wieder beruhigt zu haben schienen.
» Es könnte sich dabei genauso gut um jeden anderen privaten Kontakt gehandelt haben. « Ihrer Stimme war anzuhören, dass ihr die Unterhaltung unangenehm wurde.
» Sie brauchen meinen Mann nicht mehr zu schützen, Frau Lorberg. «
» Es geht mir dabei weniger um Ihren Mann. Er ist tot, aber Sie leben. «
» Mit der Wahrheit lebt es sich bedeutend besser. «
» Ich kenne die Wahrheit nicht, Frau Gaspary. «
» Manchmal kennt man die Wahrheit und weiß es nur nicht. «
» So ähnlich hat sich Kriminalhauptkommissar Andres auch ausgedrückt. Ich habe ihm meine Beobachtungen geschildert. Mehr kann ich nicht tun. «
» Was ist mit Ihren Eindrücken? «
Sie schwieg.
» Frau Lorberg? «
» Lassen Sie die Dinge ruhen, Frau Gaspary. «
» Das würde ich gerne, aber die Dinge lassen mich nicht r u hen. «
Dieses Mal dauerte ihr Schweigen länger. » Diese Frau Thelen … also, ich hatte den Eindruck, dass sie in ihn verliebt war «, sagte sie schließlich. » Unglücklich. «
» Was meinen Sie mit unglücklich? «
» Sie wirkte unglücklich. Ihr Mann schien nicht in sie verliebt zu sein. «
Ich atmete auf. » Und das ist die Wahrheit? «
» Sie haben nach meinen Eindrücken gefragt. «
» Darf ich Sie noch etwas fragen? «
» Natürlich. «
» Wenn ich mich recht entsinne, dann sagten Sie, mein Mann sei an seinem Todestag mittags mit Frau Thelen zum Essen verabredet gewesen. Frau Thelen behauptet jedoch, sie hätte Gregor zuletzt eine Woche vor seinem Tod gesehen. Kann es sein, dass Sie von dem Montag vor seinem Tod gesprochen haben? «
» Nein. Ich erinnere mich ganz genau: Es war halb eins. Ihr
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