Im Angesicht der Schuld
Mann sagte im Hinausgehen, er sei in einer Stunde zurück, er gehe nur schnell etwas essen. Da Frau Grooth-Schulte hier die Stellung gehalten hat, bin ich kurz einkaufen gegangen. Auf dem Rückweg kam ich am TH2 vorbei, das ist ein Lokal … etwa hundert Meter von hier. «
» Ich weiß, ich kenne es. «
» Ja … also, da sah ich Ihren Mann und Frau Thelen beim Essen sitzen. Ich konnte die beiden deshalb so genau sehen, weil sie an dem Tresen direkt am Fenster gesessen haben. «
» Und Sie haben Frau Thelen genau erkannt? «
» Mit hundertprozentiger Sicherheit. «
M eine Gedanken drehten sich im Kreis. Franka Thelen hatte mich belogen, was ihr letztes Treffen mit Gregor betraf. Annette hatte mir ihr letztes Gespräch mit ihm verschwiegen. Vielleicht lag es an meiner Übermüdung und mangelnden Konzentration. Vielleicht aber auch am falschen Ansatz. Ich kam nicht weiter. Erschöpft und entmutigt legte ich meine Hände auf die Schrei b tischplatt e u nd schob die Zettel, die darauf lagen, hin und her. Vermutlich hatte ich schon länger auf einen der Zettel gestarrt, bis mein Blick ihn wirklich erfasste. Ich nahm ihn in die Hand und las, was ich geschrieben hatte: Barbara Overbeck –vorletzte Mandantin. Darunter standen ihre Adresse und Telefonnummer. Ich nahm einen Stift und strich das vor durch. Das Einzige, was ich bis jetzt mit Sicherheit wusste, war, dass Barbara Overbeck Gregors letzte Mandantin gewesen war. Wer auch immer nach ihr gekommen war, war ein Besucher gewesen, aber kein Mandant. War dieser Besucher auch Gregors Mörder gewesen?
Einem Impuls folgend, wählte ich die Nummer. Nach dem dritten Freizeichen sprang ein Anrufbeantworter an: Dies ist der Anschluss von Barbara Overbeck. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht auf dem Band.
Als das Signal zum Sprechen kam, verhaspelte ich mich zunächst, fing mich jedoch schnell wieder. » Mein Name ist Helen Gaspary, ich würde mich sehr gerne mit Ihnen unterha l ten. Bitte rufen Sie mich zurück unter … «
Kaum hatte ich unsere Telefonnummer auf ihr Band gespr o chen und aufgelegt, wurde mir die Sinnlosigkeit meines Handelns bewusst. Was würde sie mir schon zu sagen haben? Dass mein Mann sein Sakko während der Besprechung mit ihr getragen hatte, dass er noch lebte, als sie ihn verließ? Das eine konnte ich mir zusammenreimen, das andere wusste ich. Wozu also das Ganze?
Ich fasste mir ein Herz und wählte erneut. » Nochmals Helen Gaspary. Entschuldigen Sie bitte meinen Anruf, Frau Overbeck, vergessen Sie ihn bitte gleich wieder. Es handelt sich um einen Irrtum. «
Zum Umfallen müde legte ich den Kopf auf di e S chreibtisc h platte. Ich fühlte mich so verloren, als hätte ich mich verirrt und würde nicht mehr zurückfinden. Nie mehr. Wie gerne hätte ich sämtliche Nervenstränge meines schmerzenden Körpers durchtrennt. Aber auch das war mir nicht vergönnt. Als meine Glieder immer schwerer wurden und ich kurz davor war einzuschlafen, hörte ich Jana rufen. Sie war aufgewacht und wollte aus ihrem Bettchen befreit werden.
Mit schweren Schritten schleppte ich mich in ihr Zimmer. Als ich ihr Lachen sah, erkannte ich, dass immer noch Kraft in mir war. Ich nahm sie auf den Arm und spürte die Wärme ihres Körpers. Die Wange an meine Schulter geschmiegt, nuckelte sie am Daumen. Ich war kurz davor, im Stehen einzuschlafen, und wusste nicht, wie ich den Nachmittag mit einer munteren und unternehmungslustigen Eineinhalbjährigen überstehen sollte. Aber ich konnte Jana nicht schon wieder abgeben.
Nachdem ich einen starken Kaffee getrunken hatte, zog ich sie warm an und ging mit ihr spazieren. Die Sonne war bereits hinter den Häuserfronten verschwunden. Im Innocentiapark würden wir noch die letzten Strahlen erwischen, aber dort würden an einem sonnigen Freitagnachmittag zu viele Me n schen sein. Also liefen wir in einem großen Bogen um den Park und bogen schließlich in die Klosterallee, wobei Jana an jedem Mäuerchen und bei jedem Hund Halt machte.
Nach einer Stunde streckte sie mir ihre Ärmchen entgegen. Ich hob sie hoch und wollte gerade den Heimweg antreten, als mir bewusst wurde, wo wir uns befanden –nur ein paar Häuser von Annette und Joost entfernt. Ich sah auf die Uhr. Möglicherweise war Annette bereits z u H ause. Sie arbeitete Freitagnachmittags nicht, sondern nutzte die Zeit für Erledigungen.
Auf mein Klingeln hin hörte ich Annettes Stimme durch die Gegensprechanlage. » Ja bitte? «
» Wir sind ’ s «, sagte ich. »
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