Im Angesicht der Schuld
«
» Er war keiner von diesen Haien «, verteidigte ich ihn.
» Sie haben ihn mir als sehr gerechtigkeitsliebend beschrieben. Vielleicht ist ihm das zum Verhängnis geworden. « Sie sah mich nachdenklich an. » Es ist nichts bekannt über seinen letzten Mandanten an diesem Abend? «
» Gar nichts. Bis achtzehn Uhr dreißig war eine Mandantin bei ihm. Als sie die Kanzlei verließ, lebte Gregor noch. Wir haben danach noch telefoniert. Während wir zusammen sprachen, war ganz sicher jemand bei ihm. «
Etwas ging mir durch den Kopf, was ich nicht gleich greifen konnte. Ein diffuses Bild … ein Gedankenfetzen. Ich runzelte die Stirn.
» Was ist, Frau Gaspary? «
» Etwas passt nicht zusammen … «
Gespannt beugte sie sich vor.
» Der Kragen seines Oberhemdes stand offen, als er dort im Vorgarten lag. Er trug weder eine Krawatte noch ein Sakko. Das hatte ich ganz vergessen. «
» Ist es denn wichtig? «
» So leger mein Mann in seinem Privatleben war, so formell hielt er es, was seinen Beruf betraf. Er hätte sich nie ohne Krawatte und Sakko einem Mandanten gegenübergesetzt. « Von einer Sekunde auf die andere sackte ich in mich zusammen. Die Bedeutung dieser Tatsache haute mich fast um. » Das heißt, er muss allein gewesen sein, als es geschah. «
» Die Polizei wird ihn untersucht haben und ihm im Zuge dessen Krawatte und Sakko ausgezogen haben. «
» Möglich «, erwiderte ich.
» Und was ist, wenn es gar kein Mandant war, der ihn besucht hat? «
» Wie meinen Sie das? «
» Was, wenn es jemand war, den er kannte, der ihn privat und nicht beruflich konsultiert hat? «
10
In dieser Nacht hatte ich nur vier Stunden geschlafen. Ich wusste, als wie fatal sich diese Mischung aus Überdrehtheit und Erschöpfung erweisen konnte, aber ich war machtlos dagegen. Als Nelli um acht Uhr kam, war ich dankbar für die Normalität, die mit ihr in die Wohnung wehte. Ich lud sie ein, mit mir einen Kaffee zu trinken.
» Jana schläft noch? «, fragte sie.
Ich nickte. » Sie ist gestern Abend lange aufgeblieben. «
» Redet sie noch von ihrem Papa? «
» Ich versuche, ihre Erinnerung wach zu halten, indem ich jeden Tag auf sein Foto zeige und ihr sage, dass er sie lieb hat. « Ich schlang die Arme um meinen Körper. » Jetzt weiß sie noch, wie er gerochen, wie seine Stimme geklungen hat. Aber all das wird sie vergessen. Bleiben werden nur die Fotos und die Geschichten, die ich ihr erzähle. « Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln. » Ich weiß, dass manche Kinder nicht einmal das haben. Aber soll sie dafür dankbar sein? «
Nelli schwieg. Ihr Blick kam einer Umarmung gleich.
In diesem Moment hörten wir Jana rufen.
» Darf ich? «, fragte Nelli.
» Ja. Vorher möchte ich von dir aber noch eine Erklärung für das Ave Maria am Grab meines Mannes. «
» Hat es Ihnen nicht gefallen? Es war mein Abschiedsgeschenk für Ihren Mann. « Trotzig straffte sie ihre Schultern.
» Gefallen ist ein etwas schwacher Ausdruck für das, was du da geleistet hast. Nelli, warum, um Himmels willen, gehst du putzen, wenn du eine solche Stimme hast? «
» Das ist meine Sache! «
» Du hast ein enormes Talent. «
» Na und? « Ihr Trotz war in Widerborstigkeit umgeschlagen.
» Du machst nichts daraus. Du verplemperst hier deine Zeit, anstatt zu üben. «
» Wenn Sie glauben, man könne das Ave Maria singen, ohne zu üben, dann sind Sie ziemlich schief gewickelt. Dieses Lied ist harte Arbeit. «
» Und wieso weiß ich nichts von dieser Arbeit? «
» Weil Sie diese Ausbildungsmacke haben. In Ihren Augen muss immer alles gleich in einen Beruf münden. «
Janas Laute aus dem Kinderzimmer wurden fordernder. Nelli stand auf und ging zur Tür hinaus.
» Es ist ein Jammer, solch ein Talent zu verschwenden «, rief ich ihr hinterher, war mir jedoch nicht sicher, ob sie mich gehört hatte. Ich wollte gerade aufstehen und ihr nachgehen, als sie mit Jana auf dem Arm zurü ckk am.
» Ma «, begrüßte meine Tochter mich mit einem Juchzen und zeigte dabei ihre Mäusezähnchen.
Nelli spielte Flugzeug mit ihr und ließ sie in meinen Armen landen.
» Guten Morgen, meine Süße. « Ich drückte sie an mich, wä h rend ich gleichzeitig Nelli zurückhielt, die sich davonstehlen wollte. » Nelli … «
» Frau Gaspary, ich muss jetzt wirklich an meine Arbeit. «
» Wir reden noch einmal über dieses Thema «, sagte ich in einem Ton, der, so hoffte ich, keinen Widerspruch duldete.
» Dann kündige ich. Wollen Sie das etwa?
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