Im Angesicht der Schuld
werden. Ich musste schlafen und essen … essen und schlafen.
Als hätte sie einen Hilferuf von mir vernommen, stand eine halbe Stunde später Claudia mit zwei Papiertüten vom Asia-Imbiss vor der Tür.
» Was hältst du von Hähnchen süß-sauer? « Sie hielt mir die Tüten entgegen. Das Lächeln, mit dem sie mich ansah, erstarrte. » Was ist geschehen, Helen? «
Es brauchte nicht mehr als diese Worte, damit ich in Tränen ausbrach und mich an sie lehnte.
» Lass uns hineingehen «, sagte sie bestimmt und zog mich hinter sich her. Sie ließ die Tüten im Flur stehen, setzte sich neben mich aufs Sofa und schlang ihre Arme um mich. » Und jetzt erzähle. «
» Hast du das Gefühl, dass ich wieder krank werde? «
» Hast du es? « Die ruhige Art, in der sie diese Frage stellte, gab mir Sicherheit.
» Nicht das Gefühl, nur Angst. «
» Das ist normal, die hätte ich auch. Aber Angst hat immer auch etwas Gutes. Sie lässt einen wachsam sein und kann ein ganz guter Schutz sein. « Beruhigend strich sie über meinen Rücken. » Und jetzt sag mir, was diese Angst geschürt hat. «
Ich holte tief Luft. » Ich war heute Nachmittag bei Annette. Sie meinte, wahrscheinlich stünde ich wieder kurz vor einer Depression. « Vor lauter Aufregung bekam ich einen Schluckauf. Ich hielt die Luft an.
Claudia hielt mich ein Stück von sich weg und sah mich mit gerunzelten Brauen an. » Ich bin kein Arzt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass du depressiv bist. Du bist trau rig und erschü t tert. Nach meinem Empfinden sind das völlig normale Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen. Wie kommt sie darauf, so etwas zu sagen? «
Ich erzählte ihr von unserer Begegnung, die mir in der Rüc k schau wie eine Attacke erschien.
» Wegen dieser Frage nach dem Alibi regt sie sich so auf? « Claudia sah mich ungläubig an. » Bei mir waren sie auch, um mich zu fragen. Na und? Nun wissen sie, was ich an Gregors Todestag zwischen achtzehn Uhr dreißig und zwanzig Uhr dreißig gemacht habe. Deswegen fällt mir nun wirklich kein Zacken aus der Krone. Aber Annette war ja schon immer ein wenig eigen. Wetten, dass sie morgen zerknirscht bei dir auftaucht und sich entschuldigt? «
» Glaubst du auch, dass ich mir etwas vormache, Claudia? Dass ich die Möglichkeit eines Suizids verdränge aus Angst, mit den Schuldgefühlen nicht fertig zu werden? « Es kostete mich großen Mut, sie das zu fragen.
Claudia, die über eine Spontaneität verfügte, um die ich sie oft beneidete, ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie dachte über meine Frage nach, anstatt mich vorschnell zu beschwichtigen. » Nein, das glaube ich nicht «, antwortete sie. » Du bist realistisch genug, um dich mit der Möglichkeit eines Suizids auseinander zu setzen. Und du bist stark genug, um Schuldgefühle zuzula s sen. Obwohl du, sollte Gregor sich tatsächlich zu einem solchen Schritt entschlossen haben –was ich für unwahrscheinlich halte –keine Schuldgefühle haben solltest. Wenn, dann war es ganz allein seine Entscheidung. « Sie wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. » So, und jetzt lass uns bitte essen. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr in den Magen bekommen. «
11
Claudia hätte ihre Wette gewonnen. Ich hatte am Samsta g vo rmittag gerade das Frühstücksgeschirr weggeräumt, als Annette vorbeikam. Jana nahm bei ihrem Anblick Reißaus, und ich wäre ihr am liebsten gefolgt. Sekundenlang standen wir uns gegenüber. Dann umarmte sie mich und begann zu schluchzen.
» Ich weiß überhaupt nicht, was gestern in mich gefahren ist, Helen. Wenn es überhaupt eine Entschuldigung gibt, dann die, dass ich völlig durcheinander war und überhaupt nicht mehr wusste, was ich sagte. «
Ich versteifte mich in ihren Armen. Meine innere Stimme hielt ihr entgegen, dass vielleicht ihr Unterbewusstsein aus ihr gesprochen und das preisgegeben hatte, was wirklich in ihr vorging. Aber ich schwieg.
» Der Besuch der Polizei hat mich so die Fassung verlieren lassen. Wir sind Freundinnen, Helen, und ich habe mich immer nur gefragt, wieso du sie zu mir geschickt hast. «
» Ich habe sie nicht zu dir geschickt, Annette. Ich habe dem Kommissar lediglich erzählt, dass Gregor sich nie ohne Krawa t te und Sakko einem Mandanten gegenübergesetzt hätte. Als er vom Balkon stürzte, trug er nur sein Oberhemd. Krawatte und Sakko hingen in seinem Büro. Daraus lässt sich schließen, dass der Besucher, der nach seiner letzten Mandantin bei ihm war, aus seinem nähe ren Umfeld
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