Im Angesicht der Schuld
ich das Babyphon zu meiner Nachbarin und fuhr zur Wohnung von Franka Thelen. Eine ihrer Mitb e wohnerinnen öffnete die Tür, als ich gerade klingeln wollte. Im Gehen begriffen, rief sie mir über die Schulter zu, ich sollte einfach bei Franka klopfen.
Das tat ich. Auf ihr leises Ja hin ging ich hinein. Ihrem G e sichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie nicht damit gerechnet, mich noch einmal zu sehen. In einem Schlafanzug und mit zerzausten Haaren saß sie im Schneidersitz auf ihrem Bett. Sie hielt einen Becher mit Kaffee in der Hand und hatte ganz offensichtlich gerade Zeitung gelesen. Jetzt schlug sie sie zu und warf sie vom Bett.
» Frau Gaspary … «
» Entschuldigen Sie bitte diesen Überfall, aber ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen. «
Sie ließ sich gegen die Wand zurücksinken.
» Claudia hat mir von ihrem Besuch bei Ihnen erzählt «, begann ich.
» Na, dann sind Sie ja bestens informiert. Möchten Sie sich jetzt an meinem Kummer weiden? Als kleine Rache für mein moralisch verwerfliches Verhalten? «
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. » Ich bin nicht hier, um Ihr Verhalten zu bewerten. Und Kummer habe ich selbst genug. «
Mit dem Zeigefinger verfolgte sie die Streifen auf ihrer Schlafanzughose. » Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in den vergangenen Tagen. Manchmal habe ich nur auf meinen Wecker gestarrt und dem Sekundenzeiger zugesehen. Ist Ihnen bewusst, wie schnell eine Sekunde vergeht? « Allem Anschein nach erwartete sie eine Antwort von mir.
Ich schwieg, da ich nicht wusste, worauf sie hinauswollte.
» Ein Schnippen mit dem Finger reicht und sie ist vorbei … Vergangenheit. Und so ein Fingerschnippen reicht auch, um von einer Sekunde auf die andere … « Sie starrte durch mich hi n durch. » Eine Sekunde … ein flüchtiger Augenblick hat über Tills Leben entschieden, und er hat das Leben von allen Bete i ligten von Grund auf verändert. Beas, das ihres Exmannes wie auch das ihres zweiten Sohnes, Gregors und meines. Es ist, als wären wir alle untrennbar miteinander verbunden. In Gregors Fall habe ich diese Verbundenheit mit Liebe verwechselt. Das an sich ist nicht schlimm. Schlimm ist nur, dass ich für kurze Zeit meine Werte über Bord geworfen habe. «
» Wollten Sie ihn dafür bestrafen? «
Wenn ihre Verwirrung gespielt war, dann war sie eine Meist e rin der Schauspielkunst. » Ihn bestrafen? « Dann begriff sie. » 0 nein, Frau Gaspary, nein, nein! Wenn e s m ir darum gegangen wäre, jemanden zu bestrafen, dann wäre meine Wahl auf mich gefallen, nicht auf Gregor. Ich habe bereits einen Menschen auf meinem Gewissen. Glauben Sie allen Ernstes, ich würde dem freiwillig noch jemanden hinzufügen? « Sie forschte in meinem Gesicht.
» Sie halten das tatsächlich für möglich. « Ihr anfängliches Staunen wandelte sich in Abwehr. » Ich habe Gregor nicht vom Balkon gestoßen, ich war lediglich mit ihm essen. «
Jetzt war ich so weit gegangen, jetzt konnte ich auch noch den letzten Schritt tun. » Besitzen Sie einen klassischen Burberry-Trench, eine sandfarbene Cambio, dunkelbraune Loafer von Tod ’ s und eine Elfentasche von Kiki Haupt? «
Sie sah mich an, als wäre mein Verstand im Begriff, sich von der Realität zu verabschieden. » Sehe ich so aus? «, fragte sie. » Man kann sicher einiges über meinen Kleidungsstil sagen, aber klassisch war er noch nie. Ganz abgesehen davon, dass ich mir Tod ’ s nicht leisten kann. Wer hat diese Sachen getragen? «
» Gregors letzte Besucherin. Frau Thelen, hat Gregor Ihnen gegenüber einmal den Namen Tonja Westenhagen erwähnt? «
» Tonja Westenhagen? «, wiederholte sie den Namen gedehnt. » Nein. Daran würde ich mich ganz bestimmt erinnern. Könnte sie diese letzte Besucherin gewesen sein? «
Ich schüttelte den Kopf. » Sie ist seit drei Jahren tot. «
Wieso hatte sich Gregor für diesen Fall interessiert? Wieso hatte er ein Geheimnis daraus gemacht? In unserem Arbeit s zim mer öffnete ich jeden Ordner, jeden Umschlag und durchsuchte noch einmal jede Schublade und jeden Schrank. Nichts! Ich fand keinerlei Hinweise auf dieses Mädchen.
Als ich am späten Nachmittag Annette und Joost besuchte, war ich noch völlig besessen vom Suchen. Zum ersten Mal hatte ich meine Unruhe auch auf Jana übertragen, die mit Protestgebrüll reagierte, als ich ihr ihren Anorak ausziehen wollte. Sie schmiss sich vor mir auf den Boden und wollte sich nicht beruhigen lassen. Erst als Joost sie auf den Arm nahm und mit
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