Im Angesicht der Schuld
ruhiger Stimme auf sie einredete, verstummte sie. Nachdem er ihre Tränen getrocknet hatte, begann er, Flugzeug mit ihr zu spielen und damit ihre Welt für den Moment wieder in Ordnung zu bringen.
Annette und ich folgten den beiden ins Wohnzimmer. Meine Freundin ließ einen besorgten Blick über mich gleiten. » Du bist zu dünn geworden, Helen. Das geht so nicht weiter, du treibst Raubbau mit deinem Körper. «
Ich machte eine unwillige Handbewegung.
» Isst du überhaupt etwas? «, fragte sie.
» Ich gebe mir Mühe. «
Sie setzte sich neben mich und legte einen Arm um mich. » Wenn du dir nur helfen lassen würdest … «
» Das Einzige, was mir im Augenblick helfen würde, ist die Aufklärung von Gregors Tod. «
» Dabei kann ich dir leider nicht helfen. « Sie seufzte, ließ sich gegen die Lehne des Sofas sinken und strich mir leicht über den Rücken.
» Annette, hat Joost mit dir über dieses Mädchen gesprochen? «
» Über welches Mädchen? «
» Über Tonja Westenhagen. «
» Er hat mich gefragt, ob ich mich im Zusammenhang mit Gregor an eine Tanja erinnere. «
» Tonja! Sie hieß Tonja und wurde vor drei Jahren mit gebr o chenem Genick im Jenisch-Park aufgefunden. Gregor hat sich allem Anschein nach kurz vor seinem Tod für diesen Fall interessiert. «
» Warum? Was hatte er damit zu tun? «
» Das genau ist die Frage. Wie es aussieht, hat er niemandem davon erzählt. «
» Er wird seine Gründe gehabt haben, aber die müssen ja nicht zwingend etwas mit seinem Tod zu tun haben. «
Nein, das mussten sie nicht. Nicht zwingend, aber mögliche r weise. » An dem Abend, als Gregor starb, wurde um neunzehn Uhr eine Frau beobachtet, die in die Kanzlei ging. Laut einem anonymen Schreiben trug sie einen klassischen Burberry-Trench, eine sandfarbene Cambio, dunkelbraune Loafer von Tod ’ s und eine Elfentasche von Kiki Haupt. « Ich drehte mich zu Annette um und sah sie unverwandt an.
» Warum siehst du mich so an? «, fragte sie barsch.
» Glaubst du, ich setze mich hin und verfasse anonyme Schre i ben? «
» Als du vor ein paar Wochen das Geschirrpaket bei meiner Nachbarin abgegeben hast, warst du ungefähr so angezogen wie diese Frau. « Meine Worte füllten den Raum mit anhaltender Stille.
Annette starrte mich an, als hätte ich einen schweren Verrat begangen.
Ich musste die Frage loswerden. » Besitzt du eine Elfentasche von Kiki Haupt? «
Sie stand auf und ging zur Tür. » Du gehst jetzt besser! «
» Besitzt du eine solche Tasche? «
» Warum fragst du nicht, ob ich Gregor vom Balkon gestoßen habe? «
» Also gut, dann frage ich dich das jetzt! «
» Ich habe deinen Mann nicht getötet. « Ihre Stimme war leise, aber schneidend. » Und jetzt geh! «
15
In Gregors Lieblingspullover gehüllt saß ich neben dem Bett meiner Tochter und sah ihr beim Schlafen zu. Wie würde ihr Leben ohne ihren Vater verlaufen? Wie sehr würde Gregors Abwesenheit sie prägen? Ich konnte ihr den Vater nicht erse t zen. Würde sie später in anderen Familien nach ihm suchen? Würde da eine Lücke bleiben –etwas Unerfülltes, eine Seh n sucht, die sie ihr Leben lang versuchen würde zu stillen?
Mein erstes Gespräch mit Eliane Stern fiel mir wieder ein. Viele Kinder haben einen schweren Stand, aber sie kommen durch, hatte sie zu mir gesagt. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, damit Jana gut durchkam.
Meine Gedanken wanderten zu Gregor. Als sechs wundervolle Jahre voller Liebe hat Joost die Ehe deiner Eltern beschrieben, Jana. Es waren nur sechs Jahre, sie sind rasend schnell verga n gen. Und ich habe mir so viel Zeit gelassen, so viel unnötige Zeit. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, als ich Patrick heiratete. Also durchaus in einem Alter, in dem ich eine klügere Entscheidung hätte treffen können, denn mit Klugheit hatte diese Heirat nichts zu tun. Eher mit Verblendung, Starrköpfigkeit, Naivität und Eitelkeit. Patrick war der begehrteste Junggeselle in meinem Umfeld. Und ich hatte ihn bekommen. Ich … Helen Rhinck. Die Hochgefühle, die sich bei diese m e her zweifelhaften Erfolg einstellten, verwechselte ich mit tief gehenden Emoti o nen.
Es dauerte keine zwei Monate, bis die Realität mich eingeholt hatte. Patrick sah Monogamie und Treue nicht als tragende Säulen einer Ehe an, und er machte kein Geheimnis daraus. Eine Zeit lang versuchte ich, mir eine tolerante Attitüde anz u eignen und machte gute Miene zum sehr einseitigen Spiel. Patricks Vorschlag, ich solle mich ebenfalls
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