Im Antlitz des Herrn
Gegenstand aus Metall.»
Hawley machte eine Pause und griff in seine Hosentasche. Er zog einen kleinen Stoffbeutel heraus, den er öffnete und über der Tischplatte ausschüttelte. Mit metallischem Klirren fiel ein Gegenstand auf den Tisch, den er anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt.
«Die Verletzungen an den Fersen stammen von diesem Nagel, den wir ebenfalls im Ossuarium fanden.»
Patrick zeigte den rostigen, etwa zehn Zentimeter langen Stahlstift in alle Richtungen.
«Ich wusste erst nicht, was ich davon halten sollte. Aber nach den Ausführungen von Wolfram Engel steht für mich eines ganz sicher fest: Dieser Jesus, dessen sterbliche Überreste ich heute auf meinem Seziertisch hatte, starb zwischen dem Jahr dreißig und dem Jahr vierzig unserer Zeitrechnung.»
Hawley ließ seine Hand mit dem Nagel sinken.
«Er war zum Zeitpunkt seines Todes etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt.»
Der Nagel rollte aus Hawleys Hand, fiel auf den Tisch, und das Klirren zerriss die atemlose Stille.
«Und er starb am Kreuz!»
Zehn Tage vor der Auferstehung
Wolfram Engel saß auf dem weichen Sofa und war wie betäubt. Er starrte auf das Glas Whisky in seiner Hand, das er noch nicht angerührt hatte, obwohl er seit einer halben Stunde in seiner Suite war. Er schaute auf seine Armbanduhr. Zwanzig Minuten nach elf. Ich sollte ins Bett gehen, dachte er und rührte sich nicht von der Stelle. Es bedurfte einer bewussten Anstrengung, das Glas zum Mund zu führen. Er trank einen kleinen Schluck, und der sonst weiche Whisky hinterließ eine Brandspur in seinem Hals. Vor zwei Stunden war er noch in einer euphorischen Stimmung gewesen. Er hatte sich als Erster aus der Starre gelöst, in die das gesamte Team nach Hawleys Satz «Und er starb am Kreuz» gefallen war. Er schaute sich um. Die Gesichter spiegelten die unterschiedlichsten Emotionen. Manche, wie Matin oder van Damme, schienen geistig abwesend, Peter Deary stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, und im Blick der sonst so gelassenen Theresia Stone glaubte Engel, Panik zu erkennen. Sarah Goldberg presste die Lippen aufeinander, und eine Träne rann über ihre rechte Wange. Engel drehte sich nach Henderson um. Er saß im hinteren Teil der Bibliothek, aufrecht, die Arme auf die Lehne des Sessels gelegt. Genauso stellten die Ägypter ihre Pharaonen auf dem Thron dar. Sein Gesicht wurde von einer der antiken Tischlampen mit ihrem grünen Schirm leicht beleuchtet. Die Augenlider waren halb geschlossen und der Kopf gesenkt, als konzentriere er sich in tiefer Meditation auf eine innere Welt. Plötzlich, als habe er Engels Blick gespürt, hob er das Gesicht und öffnete die Augen. Triumph, dachte Engel, Triumph ist das einzige Wort, das diesem Gesichtsausdruck gerecht wird. So schaut ein Mann, der sein Ziel erreicht hat. Henderson sah ihn nicht an, er rührte sich nicht. Engel aber stand auf und ging zu Hawley, der sofort wusste, was er wollte und ihm den Nagel entgegenhielt.
«Er ist echt, Wolfram. Altersbestimmung zweitausend Jahre plus minus hundert.»
Engel nahm den Nagel in die Hand. Er war erstaunlich schwer. Der Rost hatte die ursprünglich glatte Oberfläche aufgeraut. Er umschloss den Stahlstift in seiner Faust und verstand, warum manche Menschen Reliquien eine große Kraft zusprachen. Eine Gänsehaut lief über seinen ganzen Körper, er fröstelte und schwitzte gleichzeitig. Das war der Nagel, den ein römischer Söldner vor knapp zweitausend Jahren einem Mann durch das Fleisch geschlagen hatte, den sie auf dem Titulus, der kleinen Holztafel an der Spitze des Kreuzes, als Jesus von Nazareth, König der Juden, verspotteten. In diesem Moment hegte er nicht die Spur eines Zweifels.
Derart versunken in seine Gedanken, erschrak er, als Theresia Stone von hinten ihr Arme um seine Schultern schlang.
«Ist es nicht wunderbar? Einfach wunderbar?»
Sie wirbelte um ihn herum, drückte ihm einen Kuss auf die rechte Wange und tanzte durch den Raum.
«Ist es nicht wunderbar? Hier wird Geschichte geschrieben, und wir sind dabei.»
Die angespannte Stimmung in der Gruppe löste sich allmählich in einen wahren Freudentaumel auf. Alle lagen sich in den Armen, klopften sich auf die Schultern und versicherten einander, wie stolz sie seien, bei diesem historischen Ereignis zugegen zu sein. Engel schaute sich nach Henderson um. Sein Sessel war leer. Er war gegangen. Wahrscheinlich wollte er seinen Sieg alleine auskosten.
«Champagner, jetzt ist
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