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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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Jesus?»
    Die Anthropologin lehnte den Oberkörper zurück und den Kopf in den Nacken, damit sie Henderson ins Gesicht schauen konnte.
    «Was soll schon mit ihm sein? Es passt alles!»
    Sie drückte die Fernbedienung, und auf der Leinwand erschienen auf dem Jesus-Ossuar folgende Daten. «Geboren 5 u. Z. - gestorben 40 u. Z.»
    Augenblicklich herrschte eine gespenstische Stille im Raum. Niemand wagte sich zu rühren, die Szenerie war wie festgefroren. Es kam Engel vor wie eine Ewigkeit, bis sich Henderson in Bewegung setzte und ganz langsam zu seinem Sessel ging. Es machte den Eindruck, als müsse er sich an jeder Sessellehne abstützen. Er sagte kein Wort. Als er sich gesetzt hatte, nickte er Theresia zu, sie möge fortfahren.
    Mit fast tonloser Stimme las sie die letzten Daten vor.
    «Maria, zehn bis neunzig unserer Zeitrechnung, Judas, dreißig bis fünfundneunzig.»
    Die Daten in der Grafik waren komplettiert, und alle im Raum starrten darauf, als enthielten sie ein Geheimnis, das wie ein Vexierbild durch konzentriertes Ansehen gefunden werden könne.
    Endlich stand Patrick Hawley auf, ging zu Theresia und nahm ihr die Fernbedienung ab. Er drückte ein paar Knöpfe und auf der Leinwand erschien das Foto eines menschlichen Skeletts.
    «Nachdem meine liebe Freundin Theresia es geschafft hat, alle zum Schweigen zu bringen, möchte ich euch noch ein bisschen näher mit diesem Jesus bekannt machen. Wie wir inzwischen wissen, wurde unser Freund nicht alt, ganz sicher nicht älter als fünfunddreißig Jahre. An seinem Skelett lassen sich keine Anzeichen für eine natürliche Todesursache finden, im Gegenteil. Er scheint in guter körperlicher Verfassung gewesen zu sein. Er hatte noch alle Zähne, und bis auf zwei Eckzähne waren sie kaum von Karies befallen. Auch sonst deutet alles darauf hin, dass er sich anständig ernährte. Die einzige auf den ersten Blick erkennbare Verletzung ist ein Bruch der Elle und Speiche am rechten Unterarm, die er sich als Kind im Alter von fünf, sechs Jahren zugezogen hat. Vielleicht ist er beim Spielen vom Baum gefallen oder hat versucht, einem älteren Kind ein paar Trauben zu klauen.»
    Die entstandene Spannung löste sich in einem befreienden Lachen. Engel fröstelte beim Anblick des Skeletts. Konnte es sein, dass sie hier die Knochen von Jesus von Nazareth vor sich hatten und darüber spekulierten, wann er sich einen Backenzahn hätte ziehen lassen müssen oder ob er als Kind beim Traubenstehlen verprügelt worden war?
    Hawley riss ihn aus seinen Überlegungen.
    «Auf den ersten Blick haben wir nichts Auffälliges, das uns den frühen Tod dieses Mannes erklären könnte. Auf den zweiten Blick allerdings finden wir fast immer etwas. Bevor ich Ihnen dieses kleine Detail zeige, sollte Mr. Engel uns über die Praxis der Kreuzigung in jener Zeit informieren. Wolfram, bitte.»
    Er setzte sich auf seinen Platz, während Engel sein Notebook mit dem Beamer verband. Als er aufblickte, sah er ratlose Gesichter. Anscheinend verstand niemand, warum sie sich jetzt einen Vortrag über die Kreuzigung als Hinrichtungsmethode in Palästina zur Zeit der römischen Besetzung anhören sollten. So jedenfalls lautete nach der ersten Folie der Titel des Referats.
    «Patrick hat mich heute Morgen gebeten, Ihnen zu referieren, was wir über die Kreuzigung als Hinrichtungsmethode wissen. Nun ist das absolut nicht mein Spezialthema, und ich war erstaunt, wie viel gesicherte Erkenntnisse wir haben. Um Sie nicht zu langweilen, werde ich mich auf die wichtigsten Fakten beschränken.»
    Zustimmendes Nicken von allen Anwesenden begleitete Engels letzten Satz.
    Engel nahm einige lose Blätter zur Hand und begann seinen Vortrag, den er, wie von seinen Vorlesungen gewöhnt, mit ausladenden Gesten unterstrich.
    «Ohne Zweifel ist der Tod durch Kreuzigung einer der grausamsten. Das sahen auch die Römer so. Cicero zum Beispiel nannte die Kreuzigung ‹die graumsamste und scheußlichste aller Foltern›, und Flavius Josephus sprach von der ‹erbärmlichsten Todesart›. Weil die Kreuzigung so erniedrigend war, durfte sie nicht an römischen Staatsbürgern angewendet werden. Sie war vor allem bei politischen Verbrechen wie Hochverrat oder Rebellion die bevorzugte Hinrichtungsmethode. Sie alle kennen die Geschichte von den sechstausend gekreuzigten Anhängern des Spartakus.»
    «Das hat mich schon im Kino gelangweilt.»
    Peter Deary durchbrach die Stille im Raum und kurzzeitig lärmten alle durcheinander wie eine

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