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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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der Leinwand erschien die schematische Darstellung eines Gekreuzigten.
    «O Gott», entfuhr es Stone, «der Körper ist völlig verdreht.»
    Engel wunderte sich, dass die hartgesottene Anthropologin bei diesem Anblick weich wurde, und nickte ihr aufmunternd zu.
    «Genauso ist es, Theresia. Die Beine des Opfers wurden zur Seite gedreht, um sie mit einem einzigen Nagel durch die Fersen zu stabilisieren.»
    «Und wozu diente dieser Holzbalken unterhalb des Gesäßes?», fragte Theresia jetzt wieder sachlich und gefasst.
    «Diese sogenannte Sedecula hatte einen einzigen Zweck: das Leiden des Opfers zu verlängern. Medizinisch gesehen geschah Folgendes – bitte korrigieren Sie mich, Patrick, wenn ich etwas Falsches sage.»
    Hawley brummte Zustimmung und machte sich ansonsten Notizen. Er hatte fast ein Blatt vollgekritzelt.
    «Je länger der Mann am Kreuz hing, desto mehr ermüdeten die Arme. Schon nach kurzer Zeit dürfte er von Muskelkrämpfen geplagt worden sein. Als wäre das nicht schlimm genug, kam noch die steigende Atemnot durch die Lähmung der Brustmuskeln hinzu. Ein Gekreuzigter konnte zwar noch Luft ein-, aber nicht mehr ausatmen. Es beginnt ein schrecklicher Kampf, bei dem er versuchte, sich aufzurichten, um wenigstens einen kurzen Atemzug zu tun. Am Anfang half ihm ein Paradoxon. Je mehr Kohlendioxyd sich im Blut ansammelte, desto mehr ließen die Krämpfe nach. Er konnte sich für einen kurzen Moment aufrichten und das Gesäß auf die Sedecula bringen. Jetzt konnte er ausatmen und lebenswichtigen Sauerstoff einatmen. Aber wie gesagt, diese Entspannung dauert nur Sekunden, dann sackte der Körper wieder zusammen.»
    «Und woran starb ein Gekreuzigter? Am Blutverlust?»
    Sarah hatte die Frage fast atemlos gestellt.
    Hawley richtete sich zu seiner ganzen Größe auf.
    «Wenn Sie gestatten, Wolfram.»
    Er blickte Engel an, der ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, weiterzusprechen.
    «Nach einer Weile stellte sich ein sogenannter orthostatischer Kollaps aufgrund unzureichender Blutversorgung des Gehirns und des Herzens ein. Der Gekreuzigte sackte vollständig in sich zusammen. Hätte ich ihn anschließend auf dem Tisch gehabt, hätte die Diagnose Tod durch Ersticken gelautet.»
    «Das ist ja furchtbar.»
    Sarah war kalkweiß im Gesicht.
    «Wie lange dauerte dieser Todeskampf.»
    «Schwer zu sagen. Letztendlich ist das abhängig von der individuellen Konstitution des Gekreuzigten. Von ein paar Minuten bis zu ein paar Stunden ist alles drin.»
    «Und wenn es den Legionären zu lange dauerte, halfen sie ein bisschen nach.»
    Engel war Hawley ins Wort gefallen und machte eine entschuldigende Geste, die dieser nickend quittierte.
    «Sie brachen dem Gekreuzigten die Beine, damit er sich nicht mehr aufrichten konnte. Dann trat nach kurzer Zeit der Erstickungstod ein.»
    «Unser Jesus hier war allerdings bereits vorher tot. Zumindest sind seine Beine nicht gebrochen.»
    Nachdem Hawley den Satz beendet hatte, klappte er das Notebook vor sich auf. Es war so still im Raum, dass sich dieses Geräusch wie ein Peitschenknall anhörte. Einzig Hawley war nicht von der Starre befallen, die alle anderen im Raum zu lähmen schien. Er stand auf, zog das Kabel aus Engels Computer und verband stattdessen sein Notebook mit dem Beamer. Wieder erschien das Skelett auf der Leinwand. Erst jetzt hörte man eine Stimme, von der Engel zunächst nicht wusste, wem sie gehörte. Sie krächzte mehr, als dass sie menschlich intonierte, und erst als er aufsah, wusste er, dass es Henderson war.
    «Was zum Teufel wollen Sie uns damit sagen?»
    «Nun, ich war mir zunächst nicht sicher, und deswegen bat ich Wolfram um seinen Vortrag. Sehr einleuchtend übrigens, Herr Professor.»
    Er verbeugte sich spielerisch in Engels Richtung, der für diesen Spaß keinen Sinn zu haben schien. Er starrte auf die Leinwand. Dort erschienen Fotografien einzelner Knochen in Großaufnahme, anschließend füllte ein bestimmter Knochen das ganze Bild.
    «Nun machen Sie schon, Patrick!»
    Auch Engel hörte man die Ungeduld an. Hawley hingegen blieb sachlich.
    «Was Sie hier sehen, ist der linke Handwurzelknochen unseres Jesus.»
    Er drückte erneut eine Taste, und es erschien ein Teil des Knochens in Großaufnahme.
    «Sehen Sie die Einkerbungen auf der linken Seite? Es handelt sich um Absplitterungen von Knochenmaterial. Die gleichen Verletzungen finden sich am rechten Handwurzelknochen und an den Fersen beider Füße - hervorgerufen durch einen spitzen und harten

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