Im Antlitz des Herrn
Hand, das er vor drei Stunden erhalten hatte. Santorin. Eine schöne Insel. Er sollte auch mal wieder Urlaub machen. Vielleicht, wenn diese Sache hier vorbei ist. Jetzt hatte er anderes zu tun.
***
Engel hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es kam ihm vor, als hätte Sarahs Erzählung über Hendersons Kindheit Stunden gedauert. Als er zur Uhr sah, waren gerade einmal dreißig Minuten vergangen.
«Wie hast du all das herausgefunden?», fragte er tonlos.
«Gar nicht. Sanika hat es mir erzählt. Sie arbeitet viel länger als ich für Henderson, ist sozusagen seine einzige Vertraute. Vor drei Jahren hat Harold ihr an einem weinseligen Abend in aufgewühlter Stimmung erzählt, dass er nicht als Henderson geboren wurde, sondern als Sohn von Dorothee und James Gallagher in Portadown, Nordirland, zur Welt kam.»
Engel hob die Hand und legte die Stirn in Falten, als müsse er das Ganze noch einmal kritisch durchdenken.
«Er war also nicht der Sohn des Gründers von Henderson Electrics? Wieso hat er den Konzern dann geerbt?
«Weil er adoptiert wurde, nachdem seine Eltern und seine Geschwister von Mitgliedern der IRA ermordet worden waren. Seine Mutter war eine geborene Henderson, der Adoptivvater war sein Onkel.»
Engel stand auf und ging zur Bar. Er brauchte dringend noch einen Schluck Whisky. Schweigend goss er sich zwei Finger breit ins Glas und kehrte mit schlurfenden Schritten zum Sessel zurück.
«Was ist daran so schlimm, dass er es verschweigt? Ich habe noch nie von dieser Geschichte gelesen oder gehört. Und Henderson ist weiß Gott eine öffentliche Person.»
«Du hast recht, Wolfram, er vertuscht es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Außer Sanika weiß niemand davon, und von ihr hat er sich eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben lassen, in der furchtbare Konsequenzen angedroht werden, falls sie auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten ließe.»
«Anscheinend sind die Drohungen nicht schlimm genug, schließlich hat sie geplaudert.»
«Ich habe erst auch nicht verstanden, warum sie das tut.»
«Das heißt, du hast jetzt eine Erklärung?»
«Ich denke schon. Aber vielleicht nehme ich jetzt doch einen Whisky.»
Engel ging erneut zur Bar und goss wegen seiner Ungeduld einen großzügig bemessenen Drink ins Glas. Als er es Sarah in die Hand drückte, brummte er:
«Und?»
«Fragen wir uns zuerst, warum Henderson seine Geschichte verschweigt. Ich denke, er will nicht, dass man seine wahren Motive erkennt. Für die Öffentlichkeit scheint er seit vielen Jahren nur ein Ziel zu verfolgen: die Wahrheit über den historischen Jesus und die Frühgeschichte des Christentums ans Licht zu bringen. Dabei gibt sich Harold als menschenfreundlicher Aufklärer. Jetzt, wo du seine Familiengeschichte kennst, stimmst du mir vielleicht zu, dass ihn in Wirklichkeit etwas anderes antreibt.»
Sarah trank, ohne das Gesicht zu verziehen, einen erstaunlich großen Schluck Whisky.
«Schließlich wurden seine Eltern, gläubige Protestanten übrigens, von Katholiken im Namen des Glaubens umgebracht. Meinst du nicht, Wolfram, das wäre ein Motiv, dass die Manie erklärt, mit der er versucht, das Christentum als frommes Märchen und Scharlatanerie zu entlarven?»
Engel nickte nachdenklich. In manchen Momenten wirkte Henderson wie ein Besessener, den mehr als nur wissenschaftliche Neugier antrieb.
«Mag sein, Sarah. Aber du hast mir jetzt immer noch nicht erklärt, warum Sanika ihr Schweigen gebrochen und sich damit in eine äußerst gefährliche Situation gebracht hat.
Sarah stand mit einem Sprung auf und ging zur Tür.
«Sie hat etwas entdeckt. Aber das soll sie dir selber sagen.»
In der Ferne schlug eine Uhr Mitternacht.
Neun Tage vor der Auferstehung
Engel zog den Memory-Stick, auf dem er die Datei mit der Zeichnung gespeichert hatte, aus Sanika Nuris Computer, anschließend löschte er die Datei auf dem Rechner. Er hatte alle Verzeichnisse durchforstet, aber keine weiteren interessanten Dateien gefunden.
«Das kann unmöglich alles sein.»
Sarahs Stimme klang fest und entschlossen, sie hatte sich vom Schock der ersten Minuten sichtlich erholt, auch wenn sie immer noch jeden Blick auf Sanikas toten Körper, der unverändert auf dem Boden lag, vermied.
«Sie hatte von Beweisen gesprochen - Mehrzahl, verstehst du?»
Engel nickte. So sehr ihn die Zeichnung, vor allem das Datum, an die sie dem Anschein nach angefertigt worden war, schockiert hatte, war auch ihm klar, dass sie damit
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