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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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löste und in einen verschmutzten, graublauen Stoffbeutel von Arnotts griff. Der junge, in einen olivgrünen Militärparka gekleidete Mann hatte den zweieinhalb Kilo schweren Stein drei Stunden zuvor aus einer Beeteinfriedung am Ballyoran Park gerissen. Jetzt wiegte er ihn zwei Mal in der rechten Hand hin und her, ehe er ihn in Richtung des verhassten Banners schleuderte. Erst als der Stein Wilhelm von Oranien mitten ins Gesicht traf und anschließend den Kopf seines Vaters streifte, bevor er einen halben Meter hinter ihm zu Boden polterte, spürte der Junge den vom Wurfgeschoss verursachten Luftzug.
    Sein Vater ließ das Banner zu Boden fallen, stürzte auf die Knie und presste die Hände vor das Gesicht. Zwischen den Fingern bildete sich eine dünne Blutspur, die am rechten Arm herunterkroch.
    Die am Boden liegende Fahne war für die Katholiken ein Fanal.
    «Tiocfaidh àr là! Tiocfaidh àr là!» Immer lauter brüllten sie ihren Schlachtruf. «Unser Tag wird kommen!»
    Er kniete sich neben seinen Vater, der die Hand vom Gesicht löste. Die rechte Gesichtshälfte war angeschwollen, das Auge unter einer klebrigen, rotweiß gemaserten Masse verschwunden. Oberhalb der Augenbraue klaffte die Haut auseinander und blutete.
    «Sie greifen an, die Schweine! Weg! Nichts wie weg!»
    Er wusste nicht, wer das gerufen hatte, aber alle sprangen auf. Er spürte die Tritte der über ihn hinweg fliehenden Orangemen.
    «Komm schon, Mann! Oder willst du hier krepieren?»
    Jemand riss seinen Vater am Arm vom Boden. Er schrie auf vor Schmerz, schaffte es aber, sich halb aufzurichten. Das linke Auge aufgerissen, sah er ihn an.
    «Lauf, Junge! Lauf nach Hause! Kümmere dich um deine Mutter und deine Schwester.»
    «Aber ... du?»
    «Tu, was ich dir sage! Renn so schnell du kannst.»
    Sein Vater stolperte hinter dem Fremden her, der noch seinen Arm festhielt.
    Er schaffte es mit Mühe, auf die Füße zu kommen. Immer wieder wurde er von fliehenden Orangemen angerempelt und verlor den Halt. Er musste die Moy Road erreichen, dann wäre er gerettet. Er wandte sich nach rechts und stolperte über die massive Stange des Banners. Blutrot schrie es ihm entgegen: 1795! Über zweihundert Jahre hüteten sie es. Jetzt war er an der Reihe, es zu retten. Wilhelm von Oranien durfte nicht in die Hände der Papisten fallen. Er ergriff die Stange und hob das Banner in die Höhe. Das sofort einsetzende Geheul der Katholiken war erschreckend nahe.
    «Bist du verrü...»
    Der Schrei seines Vaters erstarb unter den Prügeln zweier Männer, die Holzlatten in der Hand hielten. Er konnte ihm nicht helfen, aber das Banner konnte er retten. Er riss es in die Höhe und schrie: «No surrender! Keine Kapitulation! Niemals!!»
    Er rannte die Moy Road hinauf, und an der Ecke Cocullentragh Road spürte er die Verfolger. An der nächsten Straßenbiegung blickte er sich für eine Sekunde um. Fünf waren sie, älter als er. Viel älter. Einer hinkte. Gut so! Die alten Kerle würden den Oranier nicht in die Hand bekommen. Niemals! No surrender!
     
    Acht Minuten später erreichte er atemlos sein Elternhaus. Die Arme spürte er kaum noch, als er mit dem Banner gegen die Haustür schlug. Seine Mutter riss die Tür genau in dem Moment auf, als ihn der erste Papist einholte. Der Mann riss ihn an den Haaren nach hinten und drängte seine Mutter ins Haus.
    «Du dreckige Unionistenhure», brüllte er und schlug ihr ins Gesicht.
    Der Junge blickte sich um und starrte Hinkefuß an, der wie aus dem Nichts auftauchte, ihm das Banner aus der Hand riss und es auf die Straße schleuderte. Ehe der Junge sich wehren konnte, versetzte der Alte ihm einen kräftigen Schlag vor den Brustkorb, der ihn zu Boden warf. Er landete einen halben Meter neben dem ersten Katholiken, der auf seiner Mutter kniete und ihr die Faust in den Bauch schlug. Von oben hörte er das Schluchzen seiner Schwester.
    Hinkefuß rannte erstaunlich behände die Treppe hinauf.
    «Was haben wir denn da? Unionistisches Frischfleisch!»
    Er verstand nicht, was der Alte meinte.
    «Mutter, was will er von Anne?»
    Als Antwort kam nur ein leises Wimmern.
    Seine Schwester kreischte:
    «Nimm deine Hände weg, du Schwein!»
    Der jüngste der fünf Eindringlinge riss eine Pistole in die Höhe.
    «Haltet endlich alle die Schnauze!»
    Der Junge sprang auf und griff nach dem Arm mit der Pistole. Es löste sich ein Schuss. Die Kugel drang in die Wand direkt oberhalb des Kruzifix ein. Das Kreuz fiel zu Boden, dabei brach der Corpus ab

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