Im Antlitz des Herrn
nicht folgenlos. Ich darf Ihnen vorstellen», Henderson drehte sich um und blickte in Richtung Bühnenhintergrund, «Judas, Sohn des Jesus und der Maria Magdalena.»
Hinter den mit Jesus und Maria aus Magdala beschriebenen Ossuarien erschien ein weiteres.
«Was würden Sie sagen, Herr Pfarrer», Henderson hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und schaute über den Rand seiner Lesebrille ins Publikum, «ist dieser Judas nun Gottes Enkel?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob Henderson die Brille ein wenig nach oben und fuhr fort:
«Der jungen Familie war kein langes Glück beschert. Jesus übertrieb es mit der politischen Propaganda und brachte die römische Obrigkeit gegen sich auf. Man machte ihm den Prozess wegen Hochverrats und verurteilte ihn zum Tode durch das Kreuz. Aber sehen Sie selbst.»
Henderson ging langsam, Schritt für Schritt nach hinten und verschwand in der Dunkelheit. Die Kanzel versank im Boden, genauso die Ossuarien.
Auf der Leinwand erschien ein kleiner Hof, begrenzt von einer hohen Mauer. In der Mitte des gepflasterten Platzes stand ein Holzpfahl. Laute Rufe und Schreie waren zu hören. War es Aramäisch, war es Lateinisch? Engel konnte nichts verstehen.
Zwei Legionäre zogen einen gefesselten jungen Mann auf den Platz und banden ihn an den Pfahl. Andere Soldaten kamen dazu und betrachteten lachend das Schauspiel. Einer hielt eine Peitsche in der Hand. Er trat vor und begann den Mann auszupeitschen. Schlag auf Schlag traf den Rücken des Verurteilten, dessen Gesicht man nicht sehen konnte, dessen Schmerzensschreie aber den ganzen Raum erfüllten und allen Zuhörern einen Schauer über den Rücken jagten. Die Kamera zoomte näher an das Opfer heran. Man sah die Peitsche niedersausen, kleine Stahlkugeln schnitten ins Fleisch. Das Blut spritzte, die Haut löste sich. Und der Mann schrie weiter. Unbeirrt schwang der Soldat die Geißel. Nach zwanzig Schlägen, oder waren es mehr, stoppte er die Prügelei. Der Verurteilte wimmerte nur noch. Endlich war diese entsetzliche Geißelung vorbei. Wolfram merkte, wie angespannt er auf den unbequemen Steinstufen saß, und versuchte, sich zu entspannen. Er hatte den Blick für eine Sekunde von der Leinwand ins Publikum gewendet, als er erneut die Peitsche knallen hörte. Der Soldat hatte, von der Prügelei entkräftet, das Foltergerät einem Kameraden übergeben, der jetzt noch brutaler ans Werk ging.
Die Tortur schien endlos weiterzugehen, als ein anderer Soldat ins Bild trat. Er stellte sich vor den Mann, der am Pfahl zusammengesunken war, und drückte ihm eine dreißig oder vierzig Zentimeter hohe Haube aus Dornen auf den Kopf, die der Tiara des Papstes nicht unähnlich war. Augenblicklich spritzte Blut aus Stirn- und Kopfhaut. Engel hatte noch nie eine so realistische Darstellung gesehen.
Die Legionäre hatten ihren Spaß an dem leidenden Mann vor ihnen, der mehr tot als lebendig schien. Einer von ihnen trieb die anderen jetzt zur Eile an und band den Gefolterten vom Pfahl los. Zwei Männer mussten ihn stützen, als ihm ein rund zwei Meter langer, schwerer Holzbalken über die Schultern gelegt wurde. Die anderen griffen sich einige herumstehende Kisten und trieben ihn mit Schlägen und Tritten vor sich her. Er schleppte sich durch ein Tor hinaus auf den Hof. Die Kamera verfolgte die sich langsam entfernende Karawane. Immer wieder brach der Verurteilte unter der Last des Balkens zusammen. Mehrere Minuten blieb die Kamera starr auf diese Szene gerichtet, bis sich die Gruppe so weit entfernt hatte, dass sie kaum noch zu erkennen war.
Die Szenerie wechselte. Der Delinquent lag bäuchlings auf dem Boden, aus seinen Wunden rann das Blut. Ein Legionär stellte sich über ihn, griff um seinen Bauch und zog ihn in die Höhe. Als er ihn mit Schwung umdrehte, schrie der Mann laut auf. Der Soldat ließ sich nicht beirren, sondern warf ihn mit der Schulter auf den Holzbalken. Ein anderer Legionär ergriff den linken Unterarm und schlug mit aller Kraft einen langen Nagel durch das Handgelenk in das Holz. Nie zuvor hatte Engel einen Menschen so schreien hören, und in den Schrei des Schauspielers mischte sich der klagende Ruf von Theresia Stone.
«Aufhören, bitte aufhören. Das kann doch niemand mit ansehen.»
Selbst der hartgesottenen Anthropologin war es zu viel, und Wolfram drehte sich besorgt zu seinem Bruder um. Er blickte starr geradeaus. Wolfram suchte Blickkontakt zu Thomas und erschrak. Was war das? Wut? Trauer? Hass? Nein, eher der Schmerz eines
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