Im Antlitz des Herrn
Gruppe dem Film bis jetzt schweigend zugesehen. Nun sagte er mit fester und lauter, aber nicht mehr erregter Stimme:
«Maria, eine jüdische Frau, die später zur Heiligen, zur Mutter Gottes, zur immerwährenden, tugendhaften Jungfrau verklärt wurde, war», Henderson deutete auf die Leinwand, «ein Flittchen.»
Die Szene wechselte, der Mann hatte die Frau nach unten auf das Stroh gedrückt, legte sich ihre Beine über die Schultern und begann mit Kopulationsbewegungen. Ob sie angedeutet waren oder echt, ließ sich aus der Position des Betrachters nicht sagen. Die Kamera schwenkte auf das Gesicht der Frau, die mit vor Lust verzerrtem Gesicht aus ihrem leicht geöffneten Mund stöhnte.
«Ich hätte Ihnen diese Szene gerne wesentlich drastischer und realistischer gezeigt, aber unsere Show soll für Menschen ab sechzehn Jahren zugänglich sein.»
Wolfram Engel spürte, wie sein Bruder neben ihm zitterte. Er blickte zur Seite und sah, dass Thomas die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Auch Sarah, die neben ihm saß, bekam die Verzweiflung des Mannes mit und sah Wolfram ratsuchend an. Als er ihr zunickte, nahm sie den Pfarrer in den Arm, der dies widerstandslos geschehen ließ.
Derweil hatte die Szene auf der Leinwand gewechselt. Der Mann hatte seine Uniform angelegt und zählte der Frau einige Münzen in die aufgehaltene Hand.
«Wir wissen nicht, ob Maria tatsächlich eine Hure war. Ganz sicher aber wurde sie im Alter von rund zwanzig Jahren unehelich schwanger und gebar neun Monate später einen Sohn.»
Die Leinwand verdunkelte sich für einen Moment, ehe man die Frau einem Säugling die Brust geben sah.
«Sie nannte ihn Jesus.»
Im Hintergrund der Bühne erschien ein Ossuarium, auch diesmal mit darüber projizierten Namen und Daten.
Wolfram Engel hatte genug. So neugierig er war, wie die Show weiterging, der Wissenschaftler in ihm ließ sich nicht länger im Zaum halten. Er erhob sich, aber Henderson hinderte ihn augenblicklich mit einer herrischen Geste am Sprechen.
«Still, Wolfram. Du bekommst später alle Zeit, deine Sicht der Dinge darzulegen. Jetzt bin ich an der Reihe, und ihr werdet es euch schweigend bis zum Ende ansehen. Danach könnt ihr mich zerfleischen. Vorher solltet ihr allerdings einen Blick in die Dokumentation der Laborergebnisse werfen. Alles basiert nämlich darauf. Eines steht fest: Josef war nicht der Vater von Jesus. Wir kennen den Vater nicht, er liegt nicht in diesem Grab. Vielleicht, weil es der römische Legionär Tiberius Julius Abdes Pantera war, dessen Bogenschützenkohorte im Jahr sechs unserer Zeitrechnung von Palästina zunächst nach Dalmatien und drei Jahre später nach Germanien verlegt wurde. Hier starb er im Alter von einundsechzig Jahren und wurde begraben. Sein Grabstein befindet sich heute im Museum der kleinen Stadt Bad Kreuznach.»
Am rechten Bühnenrand, hinter der Kanzel, schien auf einer kleineren Leinwand die Abbildung eines verwitterten Grabsteins.
«Mein Gott, diese uralte Geschichte. Böse, antichristliche Propaganda.»
Thomas Engel hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Sein Gesichtsausdruck zeigte jetzt mehr Zorn und Wut als Schmerz. Henderson lachte zynisch auf.
«Propaganda? Das müssen Sie gerade sagen, Herr Pfarrer. Es gibt einige frühe Quellen aus dem 1. Jahrhundert, in denen Jesus als Sohn des Pantera bezeichnet wird. Diese Geschichte ist auf jeden Fall weniger an den Haaren herbeigezogen als die jungfräuliche Geburt. Jetzt setzen Sie sich wieder hin, sonst muss ich Sie des Saales verweisen. Und es wäre schade, wenn Sie Ihrem obersten Chef nicht berichten könnten, wie es weitergeht.»
Sarah und Wolfram zogen Thomas Engel gemeinsam mit sanfter Gewalt herunter. Als er Platz genommen hatte, schüttelte er den Arm seines Bruders mit einer ärgerlichen Geste ab, während er die Hand der jungen Frau neben sich auf seiner Schulter duldete.
Auf der Leinwand erschien erneut die Anfangsszene mit dem wandernden Paar samt Kleinkind, und auch die beiden Ossuarien tauchten auf.
«Warum auch immer, auf jeden Fall heiratete ein gewisser Josef die schwangere Maria. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, aber sie müssen eine gute Ehe geführt haben, denn sie hatten zusammen drei Kinder: Jakobus, Salome und Simon.»
Zwei weitere Gebeinkästen samt Beschriftung «Salome» und Simon» erschienen auf der Bühne. Nach einer Pause von einigen Sekunden tauchte ein dritter Kasten von unten auf, aber er war auf den ersten Blick als Nachbildung zu
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