Im Auftrag der Rache
Deajit nirgendwo zu sehen.
Ché verbannte den Priester so vollkommen aus seinen Gedanken, als ob der junge Mann bereits tot wäre.
*
Bumm, bumm, bumm .
Die Akolytin senkte die Faust vor der massiven Eisentür der Sturmkammer und trat zurück, so dass Ché allein war, als sie aufschwang.
Vor Ché stand ein alter Priester, den er nicht kannte. Er hatte gehört, dass der vorherige Türsteher hingerichtet worden war, weil er versehentlich den R o ¯ schun während ihres Überfalls auf den Turm Einlass gewährt hatte. Angeblich war das lange Kriechen über das Krokodil sein Schicksal gewesen, gefolgt vom langsamen Quetschen des Eisenberges.
Nach kurzem Zögern trat Ché über die Schwelle in die Kammer dahinter.
Die Sturmkammer sah noch genauso aus wie beim letzten Mal, als er hierher gerufen worden war. Wie lange war das her? Einen Monat? Zwei Monate? Er wusste es nicht mehr. Sein lineares Erinnerungsvermögen war auf merkwürdige Weise in Mitleidenschaft gezogen worden, nachdem er von seiner diplomatischen Mission gegen die R o ¯ schun zurückgekehrt war, als ob er sich nicht mehr an die Ordnung seines gewöhnlichen Lebens erinnern wollte. Heute Nacht war die Kammer leer, auch wenn jede einzelne Lampe mit heller, flackernder Flamme in Schirmen aus grünem Glas brannte.
»Die Heilige Matriarchin wird gleich bei dir sein«, verkündete der alte Priester. Er verneigte sich und zog sich in einen Raum neben dem Eingang zurück. Ché steckte die Hände in die Ärmel seiner Robe und wartete.
Die Pulsdrüse hatte sich dem Schlag seines Herzens angepasst.
Durch die Fenster, die das runde Gemach umgaben, sah er die Heilige Matriarchin Sascheen draußen auf dem Balkon zwischen einigen Priestern stehen. Sie war eine große Frau in einer untypisch einfachen weißen Robe und schaute über das Geländer auf den schwarzen Himmel von Q’os, während sie sich mit den Männern besprach. Die Stimmen wurden durch das dicke Glas gedämpft.
Kohlen knisterten in der steinernen Feuerstelle mitten im Zimmer; der Rauch stieg auf in einen eisernen Kamin, der im Boden der Schlafzimmer darüber verschwand. Neben dieser Feuerstelle stand eine weitere Karte des Reiches. Es war dieselbe wie bei seinem früheren Besuch: ein großer, an einer Staffelei befestigter Papierbogen, bedruckt mit schwarzer Tinte und beschrieben mit groben Bleistiftstrichen, die geplante Flottenbewegungen für bevorstehende Invasion der mercischen Freien Häfen anzeigten. Ein Halbkreis aus ledernen Armlehnsesseln umgab diesen gemütlichen Ort. Im Zimmer verstreut standen weitere Sessel sowie breite, mit Felldecken belegte Sofas und niedrige Tische mit Schüsseln voller Früchte, Weihrauch und flüssiger Betäubungsmittel.
Bis hierhin hatten sie es geschafft , dachte Ché plötzlich. So weit waren die R o ¯ schun vorgedrungen, als sie es erneut versucht hatten. Bis zu Kirkus, ihrem Sohn .
Er konnte es sich kaum vorstellen: die R o ¯ schun, unter ihnen angeblich ein Farlander, waren durch diesen Raum marschiert und hatten nach ihrem Opfer gesucht. Sie hatten eine Spur aus Toten und Verwundeten hinterlassen, die bis zum niedrigsten Stockwerk im Tempel des Wisperns gereicht hatte. Er bezweifelte, dass Schebec es so weit geschafft hätte – Schebec, sein alter R o ¯ schun-Meister, der erfahrener als alle anderen war, mit Ausnahme eines Einzigen.
Asch , dachte er und war sich plötzlich auf intuitive Weise sicher. Es muss Asch gewesen sein .
Doch dann dachte Ché nach. War das möglich? Asch musste inzwischen über sechzig Jahre alt sein, falls er überhaupt noch lebte. Wäre er in seinem Alter noch zu so etwas fähig?
Wer immer es gewesen war, Ché musste die Täter bewundern. Gewagte und kühne Unternehmungen hatten ihn schon immer angezogen, und er spürte, wie ein verschlagenes Lächeln über sein Gesicht kroch. Der Tempel des Wisperns war ausgerechnet von einer Rattenarmee – und von drei R o ¯ schun auf ihrer Vendetta – eingenommen worden.
Ohne Vorwarnung quoll ein tiefes Lachen in seiner Brust auf. Er konnte es nur unterdrücken, indem er sich auf die Innenseite seiner Wange biss und abwartete, bis der Drang abnahm. Ché räusperte sich und riss sich zusammen.
Nun erregte die Karte auf der Staffelei seine Aufmerksamkeit.
Das war ein weiterer wagemutiger Plan – nichts Geringeres als ein Angriff auf Khos von der Seeseite her. Ché schaute noch einmal durch die Fenster auf die versammelten Priester und warf dann einen eingehenderen Blick auf die
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