Im Auftrag der Rache
Karte.
Seit er sie zuletzt gesehen hatte, war sie mit einigen Zusätzen versehen worden, auch wenn die wesentlichen Einzelheiten gleich geblieben waren. Zwei Pfeile zeigten nach Südosten zum Meer von Midèr e ¯ s und den Inseln der Freien Häfen. Sie standen für zwei Ablenkungsflotten, die in der vergangenen Woche ausgelaufen waren und die Flotten der Freien Häfen in Kampfhandlungen verwickeln sollten, wodurch die Verteidigungskräfte hoffentlich von Khos weggelockt wurden. Daneben waren in feinen Bleistiftstrichen die Flottengrößen, Reisezeiten und andere Bemerkungen verzeichnet. Und es gab viele Fragezeichen.
Ein dritter Pfeil führte von der Hauptstadt Q’os zur weit im Osten gelegenen Insel Lagos, und weitere Zahlen und Fragezeichen waren neben ihn gekritzelt. Von Lagos aus zeigte ein vierter Pfeil hinunter nach Khos – das war das Erste Expeditionskorps, das Khos unmittelbar angreifen würde.
Ché hatte sich ganz in die Einzelheiten vertieft, als er plötzlich bemerkte, dass er nicht allein im Raum war.
Er schaute hinüber zu einem Armlehnsessel, der so tief war, dass er das Wesen, das darin saß, gar nicht bemerkt hatte: Kira, die Mutter der Heiligen Matriarchin von Mhann. Die alte Vettel schlief, wie es schien, und hatte die faltigen Hände über dem weißen Stoff ihrer Robe verschränkt. Ché stieß leise die Luft aus, die er vor Schreck angehalten hatte, und wagte einen eingehenderen Blick. Hinter den Lidern sah er etwas schimmern – zwei Augenschlitze.
Sah sie ihn etwa an? Hatte sie sein unterdrücktes Lachen bemerkt?
Ché spürte, wie sich die Haare an seinen Armen aufrichteten. Er war genauso entsetzt über seine mangelnde Aufmerksamkeit wie über die Tatsache, dass sie ihn heimlich beobachtete.
Kira dul Dubois: eine der Teilnehmerinnen der Längsten Nacht vor fünfzig Jahren. Die Gerüchte besagten, dass sie eine Geliebte von Nihilis gewesen war, und sie besagten auch, sie habe Anteil an seinem Tod gehabt, der im sechsten Jahr seiner Regierungszeit als Heiliger Patriarch erfolgt war. Es war, als würde Ché von einer Silberschlange angeblickt.
Langsam trat er von der Karte zurück und hoffte, damit aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Er räusperte sich, als er seine Position in der Mitte des Zimmers wieder einnahm, und weigerte sich, die alte Frau noch einmal anzusehen.
Endlich glitten die Glastüren des Balkons zur Seite, und die Priester schritten hintereinander durch den Raum. Einige warfen verstohlene Blicke in Chés Richtung, und einen von ihnen erkannte er als einen Priester aus der Handelssekte, der Frelasé. Hinter ihm ging Buschrali persönlich. Ché hatte eigentlich erwartet, dass der Mann tot war, weil es ihm nicht gelungen war, das Versteck der R o ¯ schun in der Stadt zu finden. Aber nein, es war ihm offenbar durch ausgedehnte politische Manöver gelungen, seine Haut zu retten, und er war sogar das Haupt der Regulatoren. Vielleicht stimmten die Gerüchte, dass er über jeden Hohepriester von Q’os ein Geheimdossier zum Zwecke der Erpressung angelegt hatte.
Aber Ché sah, dass der Mann nicht jeglicher Bestrafung entgangen war. Er trug nun ein Q’os-Halsband, einen Eisenreifen, an dem eine Kette befestigt war, die in einer kleinen Kanonenkugel endete, die er wiederum in den Armen hielt, als er an Ché vorbeiging. Dieses Halsband würde er nun für den Rest seines Lebens tragen.
Nur Sascheen und ein einzelner Leibwächter blieben draußen. Die Frau schien sich in ihren Gedanken verloren zu haben. Ché spürte, wie ein Luftzug durch die offene Tür drang und an seiner Wange entlangfuhr, doch die Geräusche der Stadt unter ihm konnte er nur ganz schwach hören. Es war ungewöhnlich still in diesen Wochen des erzwungenen Trauerns. Als sich Sascheen umdrehte und die Sturmkammer betrat, rieb sie sich den Nasenrücken, als ob sie Kopfschmerzen hätte. Ihr Leibwächter blieb draußen und patrouillierte langsam auf dem Balkon. Die Matriarchin näherte sich einem Podest mit dampfenden Schüsseln darauf, beugte sich über eine von ihnen und atmete den Rauch ein. Mit einem Keuchen richtete sie sich auf, und ihr Gesicht wurde rot.
Sascheens Lider flatterten einen Augenblick lang, als sie sah, dass ihr Diplomat auf sie wartete. Sie ging hinüber zum Feuer und streckte ihm die Hände entgegen.
»Ist es erledigt?«, fragte sie, während sie ihm den Rücken zugewandt hielt.
»Ja, Matriarchin.«
»Dann setz dich. Wärme dich auf.«
Ihm war nicht kalt, aber er tat, wie ihm befohlen
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