Im Auftrag der Rache
der er die beiden Sehnen entfernt hatte, um sie vor dem Wetter zu schützen. Er schaute durch das Teleskop und erhaschte einen Blick auf einen vorüberstreifenden Umriss hinter den breiten Fenstern der Sturmkammer.
Asch fragte sich, wie lange er wohl noch so warten musste, hoch über der Stadt mit ihren zwei Millionen Fremden im Herzen des Reiches von Mhann. Er war alles andere als ungeduldig. Asch hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht, herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas passierte. Das war die Hauptbetätigung eines R o ¯ schun, wenn er nicht gerade im Endstadium einer Vendetta sein Leben riskierte.
Doch das gegenwärtige Warten war irgendwie anders. Hier ging es nicht um eine R o ¯ schun-Vendetta. Er war allein hier, ohne Unterstützung, ja sogar ohne ein Heim, zu dem er zurückkehren konnte, wenn er diesen persönlichen Racheakt zu Ende gebracht hatte. Und sein Zustand verschlechterte sich beständig.
Er war überrascht gewesen, als die Einsamkeit in seinen Kummer und seine Schuldgefühle eingebrochen war. Sie war an jenem ersten Abend zu ihm gekommen, als er allein in der Stadt Q’os zurückgeblieben war, nachdem die Vendetta gegen den Sohn der Matriarchin ausgeführt, sein Gehilfe auf ihren Befehl hin getötet worden war und sich Baracha, Aléas und Serèse auf den Rückweg zum R o ¯ schunkloster nach Cheem gemacht hatten. Es war eine lange Nacht gewesen, die er, in seinen Mantel eingewickelt, am besten Aussichtspunkt auf den Tempel verbracht hatte, den er hatte finden können – auf dem Dach einer Spielhölle. Hier hatte ihn die schwarze Verzweiflung überfallen.
Asch legte sich zurück und zog den Mantel über seinen steifen Körper. Er bettete den Kopf auf einen Stiefel und schloss die Finger über dem Bauch, während er den groben Stoff des Umhanges auf sich spürte. Es war die bisher erste klare Nacht seiner Wache. Schon waren die Zwillingsmonde im Westen untergegangen, während sich über ihm das Große Rad wie üblich drehte: langsam und fließend wie die Gezeiten. Rechts hing tief am Himmel das Sternbild des Großen Narren; seine Füße schwebten dicht über der Erde. Darüber und weiter rechts von ihm wachte Ninschis Haube über allem.
Er bemerkte, wie er auf die Sterne starrte, die das Gesicht unter der Haube bildeten. Vor allem betrachtete er das einzelne Auge, das in hartem rubinroten Licht glänzte. Das Auge von Ninschi. Dieser Stern war wie kein anderer. Manchmal verschwand er vollkommen aus dem Blickfeld, während seine Gefährten weiter brannten. Einige Stunden später kam er wieder heraus und wurde heller, bis er die gleiche Strahlkraft wie zuvor erreicht hatte.
Die alten Honschu-Seher behaupteten, man werde von seinen schlimmsten Sünden und Verfehlungen reingewaschen, wenn man das Zwinkern von Ninschis Auge sah.
Asch starrte den Stern an, ohne zu blinzeln. Er starrte so lange, bis es in seinen Augen stach und flimmerte, doch er schloss sie nicht, weil er unbedingt sehen wollte, wie der Himmelskörper verschwand.
Dabei bemerkte er nicht, wie seine Hand nach der Tonphiole mit Asche griff, die ihm um den Hals hing, und diese fest packte.
Kapitel zwei
Ch e ’
»Der Familienherd, Freunde, Verwandtschaften … das alles ist nicht mehr als die kollektive Verneinung der Schwachen als Antwort auf die grundlegende Wahrheit unserer Existenz: dass jeder von uns von nichts anderem als den Impulsen des Eigennutzes angetrieben wird.
Deswegen verabscheuen es die Schwachen, wegen Selbstsucht angeklagt zu werden. Deswegen bieten sie stets Wohltätigkeit und Gefälligkeiten an, wenn es ihnen passt. Deswegen reden sie mit großer Überzeugung vom Geiste einer gerechten Gesellschaft.
Nimm dir diese Menschen vor. Unterdrücke sie. Hungere sie aus. Nimm ihnen ihre Vorstellungen von Solidarität, bis sie der Wirklichkeit schutzlos ausgeliefert sind.
Dann wähle einen von ihnen aus. Sage ihm, er soll sich selbst retten, indem er jemand anderen umbringt. Gib ihm eine Klinge.
Beobachte ihn, wie er das Messer aus deiner Hand entgegennimmt und die Tat ausführt .«
*
Der Diplomat Ché legte die Hand vor den Mund und verbarg hinter ihr ein gelangweiltes Gähnen. Einen Moment lang wurden die Worte aus dem Buch der Lügen in seinen Ohren zu nichts zerquetscht. Die Akolytin neben ihm betrachtete ihn durch die Löcher in ihrer Maske. Starr erwiderte er den Blick der Frau, bis sie wegsah.
Träge schaute sich Ché in dem großen fensterlosen Raum um, der von Rauch und Gaslicht
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