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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Tante und meine Frau starben auf dem Kreuzweg zurück nach Süden vor Erschöpfung, viele andere verhungerten, erlagen Krankheiten, wurden erschossen ... Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Not, wie viel Grausamkeit ... Ich kann das nicht erzählen ...«
    Eisenstein barg das Gesicht in den Händen, sah auf, sprach weiter, als wollte er es rasch hinter sich bringen, dann waren sie wieder in Slawonien, kamen, weil sie Volksdeutsche waren, nach Walpach, wo die Partisanen eines ihrer Konzentrationslager für die Deutschen errichtet hatten, dort ging das Sterben weiter, Hunger, Krankheiten, Erschöpfung, Selbstmorde. Dreitausend Insassen im Lauf eines Jahres, die Hälfte überlebte nicht, darunter Heinrichs Mutter, die wenige Tage vor der Auflösung des Lagers 1946 starb.
    »Wie den Vater hat er auch die Mutter sterben sehen«, sagte Eisenstein. »Mit nicht einmal drei Jahren hat er irgendwo in Slowenien am Rand einer staubigen Straße im Regen neben dem toten Vater gesessen, der halbnackt im Dreck lag, einfach irgendwann zusammengebrochen und Minuten später gestorben ist ... hat den toten Vater angestarrt, der nur einer von vielen Vätern war, die auf diesem Todesmarsch am Straßenrand zusammengebrochen oder vorher in Slowenien zu Tausenden erschossen worden sind ...« Eisenstein räusperte sich erregt. »Und dann, mit nicht einmal vier Jahren, hat er im Vernichtungslager Walpach neben der Mutter gesessen, die von einem Moment auf den anderen tot umgefallen ist vor Hunger und Erschöpfung ... hat die Fliegen und Mücken vertrieben ... die Ameisen, die über ihr Gesicht liefen ...« Eisenstein
hatte die Stimme erhoben, senkte sie nun wieder. »
Das
müssen Sie wissen, wenn Sie ihn verstehen wollen. Wenn Sie, wenn wir verstehen wollen, was er getan hat oder tun will.«
    Louise nickte. Plötzlich hatte sie Carola vor Augen – der wilde, traurige Blick, das rote Haar, die Angst vor dem Zerfall der Familie. Henriette, die nicht fliehen wollte, die ihren Mann verlassen würde. Zwei Frauen, die nichts anderes getan hatten als Millionen andere Frauen: ein kleines, kompliziertes, unschuldiges Leben zu führen.
    Ganz wie Biljana und Snježana es getan hatten.
    Ein Leben für das Leben Biljanas, eines für das Snježanas.
    Antun verstehen ... Niemals in dem Sinn, wie Eisenstein es vielleicht meinte.
    Aber sie beide hatten ohnehin Probleme mit Wörtern. Das »Konzentrationslager« Valpovo. Die »Mörderbanden« Titos. Der »Genozid«.
    Die Wörter seien Teil des Problems, hatte Arndt Schneider in Lahr gesagt. Sie dachte, dass er recht hatte. Wörter waren nicht neutral. Sie erzählten Geschichten aus einer bestimmten Perspektive.
    Eisenstein schwieg noch immer, streifte sie hin und wieder mit dem Blick. Sie wusste, dass er nicht von seiner Frau erzählen würde, die doch auch ums Leben gekommen war auf dem Rückweg von Bleiburg nach Slawonien. Nach einem Moment begann er zu weinen, weinte minutenlang lautlos, die Schultern waren nach vorn gesunken, die Hände lagen im Schoß, ein einsamer, sehr alter Mann, den sie in die Schrecken seiner Vergangenheit zurückgeführt hatte.
    Dem sie erzählen musste, was Antun Lončar geschehen war, was er möglicherweise zu tun beabsichtigte.
     
    Die Unruhe kam zurück. Lončar hatte Vorbereitungen getroffen. Pläne gemacht. Welchen Plan hatte er für die Tage nach dem Brand? War er in Au, beobachtete das Haus, die Kollegen im Auto, auf den Straßen? Was würde sie an seiner Stelle tun? Wo wäre sie an seiner Stelle in diesem Moment?
    Vielleicht war das der Fehler: dass sie sich den Kopf darüber zerbrach, was
im Moment
geschah. Ein alter Krieger, der Pläne schmiedete, dachte
voraus.
Überlegte, was er tun würde, wenn er den Plan in die Tat umgesetzt hatte.
    Bereitete vor, was er tun würde.
    Sie stand auf, ging wieder zum Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, der Nebel hatte sich fast aufgelöst. Die Steinterrasse war dunkel von Feuchtigkeit, die Äste eines Obstbaumes bewegten sich leicht. Auf drei Seiten Zäune zu den Nachbargrundstücken. Zu sehen war niemand.
    Bereitete vor, was er tun würde, wohin er gehen würde.
    War Antun Lončar in Lahr? Hier, irgendwo verborgen, hatte darauf gewartet, dass sie zu Andreas Eisenstein kommen würden?
    An seiner Stelle, dachte sie, hätte sie das getan. Sie hätte wissen wollen, ob der Kontakt entdeckt worden war. Ob jetzt auch nach einem weißen Golf aus den frühen Neunzigern gesucht wurde.
    Ob sie zu Andreas Eisenstein zurückkehren

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