Im Auftrag der Väter
konnte, ohne in eine Falle zu gehen.
Heinrich verstehen, Antun verstehen. Die Jahre in Josefsdorf-Poreč fehlten noch, dorthin ging Andreas Eisenstein mit dem knapp vierjährigen Heinrich und dessen Onkel nach der Auflösung des Lagers in Walpach 1946 , in ein verlassenes donauschwäbisches Haus.
Die ersten Jahre in Josefsdorf waren, erzählte Eisenstein, der jetzt zutiefst erschöpft wirkte und mit monotoner Stimme sprach, friedlich, wenn auch nicht unbeschwert oder gar glücklich, weil sie alle zu viel verloren hatten und nun auch noch ihr Deutschsein aufgaben, nicht weil man sie mit Gewalt dazu gezwungen hätte, sondern aus Angst vor der Denunziation als »Faschisten« und Besuchen der Staatssicherheit. Heinrich, der kein Wort Kroatisch konnte, sollte nicht mehr Deutsch sprechen, nicht zu Hause, schon gar nicht auf der Straße, Christian, der Onkel, setzte strikt durch, dass man von nun an wie so viele andere Deutschstämmige versuchte, Kroate zu werden.
Sie hatten sich auf dem Weg nach Josefsdorf kroatische Namen gegeben, waren jetzt Davor Vejnović, Igor und Antun Lončar, alle Ausweise und Dokumente mit den echten Namen wurden im Garten in einer Schachtel vergraben. Gemeinsam lernten sie Tag und Nacht Kroatisch, Heinrich als Anfänger, die beiden Älteren, um den verräterischen Akzent loszuwerden. Von nun an waren sie Kroaten. Nur den deutschen Psalm, sagte Andreas Eisenstein, wollten sie sich bewahren, Psalm 9 , Vers 10 , der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not, diese Worte waren
ihnen
Schutz, in ihrer Not.
In den Nächten kamen die Träume, jahrelang, er selbst und Christian sprachen nicht darüber, nur Heinrich, der oft weinend aufwachte und von immer demselben Traum erzählte – Hunderte, Tausende Männer, darunter sein Vater, die auf einer Lichtung im Regen tanzten, ganz langsam, als hätten sie wie Marionetten an Fäden gehangen und würden in Zeitlupe bewegt, und sie schienen zu lachen und sich wohl zu fühlen, doch dann begriff Heinrich im Traum,
dass die Männer und sein Vater »tanzten«, weil auf sie geschossen wurde und Kugeln in ihre Körper schlugen, dass sie nicht lachten, sondern weinten, dass er sie im Sterben sah.
1960 verließ Andreas Eisenstein alias Davor Vejnović Josefsdorf-Poreč und übersiedelte nach Deutschland, was seit Mitte der Fünfzigerjahre erlaubt war, sofern man Geld hatte, um sich »freizukaufen«. Antun war zur jugoslawischen Armee gegangen, war ganz zum Kroaten geworden und hasste alles Deutsche an sich, an seinem Onkel Christian, an Eisenstein. Wenn die beiden stumm den Psalm sprachen, stand er auf und verließ den Raum. Sie begannen zu streiten, über alles, ohne Grund. Wenn Eisenstein oder Christian ein deutsches Wort benutzten, drohte Antun, sie zu denunzieren. Er hatte das Deutsche an sich so lange verleugnen müssen, bis er es zu hassen begonnen hatte. Eines Nachts hatte er die Schachtel im Garten ausgegraben, alle Dokumente mit seinem deutschen Namen herausgenommen und verbrannt.
Eisenstein reiste in tiefem Zwiespalt ab. Er sehnte sich nach Deutschland und machte sich zugleich Vorwürfe, weil er Antun im Stich lasse. Doch Antun war fort, seit Tagen schon, ohne ein Wort des Abschieds. Nur Christian begleitete ihn zum Bahnhof nach Požega.
Vierundvierzig Jahre lang hatte Eisenstein Antun Lončar nicht gesehen, nichts von ihm gehört. Bis eines Tages im Sommer 2004 ein Brief aus München gekommen war, bis Antun vor wenigen Wochen vor dem Haus in Lahr gestanden hatte, nun beinahe selbst ein alter Mann, ein stiller, harter, feindseliger Mann, der sich nicht berühren, umarmen ließ, der nicht erzählen wollte, was in den vierundvierzig
Jahren geschehen war, der nur eines wollte: die Adresse von Paul Niemann, und nur eines annahm: Eisensteins alten weißen Golf.
Ein paar Minuten später ging sie, Eisenstein brachte sie schweigend zur Tür. Bis zum letzten Moment lagen ihr die Fragen nach den Wörtern auf der Zunge, »Konzentrationslager«, »Vernichtungslager«, »Genozid«, warum diese Wörter, Herr Eisenstein, sie erzählen doch etwas anderes, nämlich das, was die Nazis den Juden angetan haben. Valpovo mit Auschwitz gleichsetzen? Die geplante Ausrottung der Juden mit der Vertreibung der Deutschstämmigen? Und die Tito-Partisanen »Mörderbanden«? Sie haben doch die Nazis bekämpft! Den Balkan mitbefreit! Verstehen Sie denn nicht, dass solche Wörter Menschen wie mir die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Donauschwaben schwer
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